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Der
Wolf und die sieben jungen Geißlein (
Brüder Grimm, KHM Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr.
5, --> Originaltext)
Wer
junge Ziegen erlebt, der staunt über ihre Neugier. Überall
klettern sie hinauf, sogar auf die Kühlerhaube des Autos,
untersuchen meine Taschen, knabbern alles an... Sie sind wie
die kleinen Kinder, die begierig ihre Sinne entwickeln wollen,
um mit ihnen die Welt kennenzulernen: Kinder wollen schmecken,
tasten, hören, sehen.... und indem sie ihre Sinne ergreifen,
geht die ursprüngliche Hellsichtigkeit verloren. Es wird
dunkel – sie sind im Wolfsbauch. Kinder
bringen wie die Geißlein im Märchen unbedingtes
Vertrauen mit. Vertrauen können sie nicht von den Eltern
geerbt haben. Vertrauen können sie nicht auf der Erde
lernen. Sie bringen es aus einem Bereich mit, wo man vertrauen
kann, wo alles wahrhaftig offenliegt, wo nichts verborgen
werden kann.
Kinder
bringen die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens aus
dem Himmel in unsere menschliche Gesellschaft hinein, so wie
die Erwachsenen aus dem Nachtschlaf moralische Impulse in
das Tagesleben hereinbringen können.
Vertrauen
ist die Grundlage des Zusammenlebens in der menschlichen Gesellschaft.
Zusammenleben in der Gemeinschaft funktioniert nur, wenn Versprechen
gehalten werden. Zum Beispiel fahren alle Autos auf den Straßen
rechts. Das schränkt zwar die Freiheit des Einzelnen
ein, ermöglicht aber ein Fahren ohne Zusammenstöße.
Darauf muß ich als Verkehrsteilnehmer vertrauen können.
Kinder
bringen unbedingtes Vertrauen auf die Güte und das soziale
Verhalten des anderen Menschen mit auf die Welt und begründen
so immer wieder das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft!
Wieso bringen das die Kinder mit? Weil sie aus einer Gegend
kommen, wo sie vertrauen können, wo alles offenbar und
deshalb wahr ist. Auf der Erde jedoch erleben sie, daß
man sich in seinem Leib verstecken kann, daß man täuschen
kann, sich verstellen und lügen, um Vorteile zu erlangen.
Lügen
und Bosheit erscheinen in unserem Märchen im Sinnbild
des Wolfes. Der Wolf mißbraucht das Vertrauen. Er belügt
die Geißlein, und sie öffnen die Türe. Das
ist aber nicht der Fehler der Geißlein, sondern die
des Wolfes.
Das Märchen erklärt dem Kind, wo es jetzt ist, und
warum es da dunkel ist. Aber es gibt auch den tröstlichen
Ausblick, daß es wieder einmal hell werden kann –
durch die jüngste Kraft, die Herzenskraft "im Uhrenkasten",
und durch die Schere, das Unterscheidungsvermögen, das
wir entwickeln sollen. (siehe auch Deutung von --> "Rotkäppchen").
Das Kind nimmt die Sinnbilder des Märchens in sich auf,
ohne sie zu hinterfragen oder zu beurteilen. Die Bilder sinken
bei ihm ins Unterbewußtsein ab und bieten dadurch in
späteren Krisensituationen einen festen Boden bei seelischen
Schwankungen, und Lebenssicherheit.
Wir
Erwachsenen aber sind aufgerufen, das Unterscheidungsvermögen,
die "Schere", bewußt zu entwickeln, um den
"Wolf" zu durchschauen. Die Möglichkeiten,
die Informationen dazu, haben wir heute in reichem Maße.
Wir müssen nur auf die Stimme unseres Herzens hören
- auf das jüngste Geißlein im Uhrenkasten - und
nicht resignieren oder uns gar an die Dunkelheit gewöhnen.
Der Mensch ist das einzige Wesen, das nicht fertig ist, sondern
sich entwickeln kann. So lange wir uns aber mit der Dunkelheit
abfinden, sind die entwicklungsfähigen Kräfte in
uns, die jungen Geißlein, gefesselt und können
keine Fortschritte machen. Als Vorbild für unermüdliches,
freudiges Bemühen können wir Erwachsenen das kleine
Kind nehmen, das sich aus eigenem Antrieb immer wieder gegen
die Schwerkraft aufrichtet, so oft es auch zu Boden gezogen
wird.
Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart! (F.
Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008)
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