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Der
Grabhügel
(Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen,
Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 195, --> Originaltext)
Deutung
Die
sinnbildliche Sprache der Märchen war den Menschen
vor 200 bis 300 Jahren sicherlich leichter zugänglich
als uns heute. Sie gingen Sonntags in die Kirche, wo der Pfarrer,
der Priester ihnen die Sinnbilder der Bibel auslegte, sie
mit den Seeleneigenschaften der Zuhörer in Beziehung
brachte. Bei der Jordantaufe kam der heilige Geist in Gestalt
einer Taube auf Jesus herab. Jeder ahnte, was gemeint war,
wenn von der himmlischen Hochzeit gesprochen wurde, zu der
man ein schönes Gewand haben muß. Dem Reichen,
der für seine Vorräte größere Scheunen
bauen will, sagt Christus: "Du Narr, heute nacht wird
man deine Seele von dir fordern." Der Reiche wurde als
der seelisch Hochmütige begriffen, und der Arme als der
Demütige, der angesichts der Fülle der geistigen
Mächte natürlich bescheiden ist.
So
ahnten die Menschen damals wohl eher, daß die
Personen des Märchens in der eigenen Seele spielen. Der
Reiche ist derjenige in mir, der sich auf seinen Begabungen
ausruht, stolz auf sie ist und meint, alles selber zu können.
Er kennt nichts Höheres über sich, kennt also auch
keine Erfurcht.
Der Arme ist demütig, erkennt seine Armut im Vergleich
zum Reichtum der göttlichen Welt an. Nun stirbt der Reiche
in mir, der Hochmut (das ist im irdischen Leben ein langer
Entwicklungsweg), und Demut entwickelt sich: im Märchenbild
der Arme. Aber es genügt nicht, sich demütig nach
oben zu öffnen. Man muß auch Wachsamkeit entwickeln,
damit keine bösen Mächte diese Öffnung benutzen,
um ungefragt einzudringen.
Nachdem
der Arme es geschafft hat, zwei Nächte lang zu wachen,
wo der normale Mensch sonst das Bewußtsein verliert,
erscheint am dritten Abend der Soldat:
"Ich
bin nur ein abgedankter Soldat, und will hier die Nacht zubringen,
weil ich sonst kein Obdach habe….." Wofür
hat er immer gekämpft? Vielleicht gegen Versuchungen,
gegen das Böse, gegen die Trägheit … Vielleicht
hat er sich dann, weil es "abgedankter Soldat" heißt, befreit von der Bevormundung von alten Institutionen,
so daß er nicht mehr wie früher für Sold kämpft,
sondern für sein Gewissen. Große Reiterstiefeln
sind sichtbar = er hat also offenbar Fortschritte gemacht,
denn zu Pferd kommt man schneller voran als zu Fuß.
"..hatte
Narben im Gesicht…" nämlich vorne, wie
es sich für mutige Kämpfer gehört, und nicht
hinten wie bei Feiglingen.
Warum
will er "die Nacht zubringen" bei den Toten?
Weil er sonst kein Obdach hat. Dieser Geisteskämpfer
(in der menschlichen Seele) zieht sich zurück in geistige
Regionen der Verstorbenen, in den Nachtbereich, und deshalb
hat ihn der Arme auch "noch nie gesehen" Es ist
ihm nicht bewußt, daß er einen solchen Kämpfer
in sich hat, denn der Nachtbereich war ihm bis jetzt nicht
zugänglich. Aber nun wird ihm die Nacht zugänglich,
weil er zwei (endlich drei) Nächte am Grabe wacht. Und
da kommt ihm dieser innere Kämpfer zum Bewußtsein.
"Gib den Armen, was mir zufällt…." Er
hat selbstlos für die Wahrheit und das Gute gekämpft,
nicht für den eigenen Vorteil. Wer sich so mit
Wahrheit und Liebe verbindet, den durchströmen belebende
Kräfte. Das ist Lohn genug. Deshalb braucht er das Gold
des Teufels nicht. Das Gold kann nun dadurch gereinigt werden,
daß man es den Bedürftigen zur Verfügung stellt.
Die Armen, das sind die "Seligen, die da geistig arm
sind, denn das Himmelreich ist ihrer". Sie empfangen
aus Gnade, was der Geisteskämpfer mit den scharfen Waffen
seines Geistes errungen hat, das Gold der Erkenntnis.
(Frank
Jentzsch 8.2.2008 / 21.6.2009 / 19.6.2011)
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