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1) Märchenfrauen mit Macht
In
vielen Märchen spielen Frauen von Anfang an eine führende
Rolle. Bei Frau Holle zwingt die Mutter die spätere Goldmarie,
so viel zu spinnen, "daß ihr das Blut aus den
Fingern sprang". Bei Hänsel und Gretel läßt
die Mutter die Kinder im Wald aussetzen. Eine böse Stiefmutter
läßt Aschenputtel von früh bis spät hart
arbeiten, und wenn es müde war, "kam es in kein
Bett...." In den russischen Märchen muß der
Held die Prüfungen der Baba Jaga bestehen:"Sonst
fresse ich dich!" ("Die schöne Wassilissa")
2)
Die Heldinnen im Märchen
Oft beklagen Frauen, daß es in
den Märchen nur männliche Helden gebe. Aber die
Goldmarie in Frau Holle ist doch eine Heldin! Besiegt nicht
Gretel in "Hänsel und Gretel" mit einer List
die gefährliche Hexe? Erträgt nicht Aschenputtel
geduldig den Spott der Stiefschwestern und führt alle
ihr übertragenen Arbeiten ohne Murren aus, bis sie den
Prinzen bekommt? Sie wird dabei nicht gedemütigt sondern
übt die Tugend des Ertragens.
3)
Historische Aspekte
Die
Bilder der Märchen kommen aus früheren Jahrhunderten,
in denen die Frau eine andere gesellschaftliche Stellung hatte
als heute. Wenn wir die Märchen auf der selben Ebene
wie Romane oder Schauspiele verstehen wollen, so gibt es Probleme.
Die Rolle der Frau darin ist dann demütigend. Die Märchen
erscheinen uns grausam, unrealistisch, nicht mehr zeitgemäß.
Aber vielleicht sind sie ja "zeitlos" und menschlich
gemeint anstatt geschlechterspezifisch? Ein
Märchenbeispiel:
4)
Wassilis Weibchen (F.J.
nach Afanasjew)
Wassili hatte ein Weibchen, na, ihr wißt schon, was
für eine: Immer gab sie Widerworte. Wollte er Grünfutter
schneiden, schon rief sie: "Nein, erst wird Holz gehackt!"
Wollte er Gerste säen: "Nein, Hafer!"
Einmal im Frühling waren die beiden zusammen unterwegs......
, kamen an ein Flüßchen. Das Schmelzwasser hatte
die Brücke davongerissen, nur ein langer Balken lag darüber.
"Hier kriege ich sie!", dachte Wassili. "Ich
gehe zuerst!" sprach er. "Nein, ich!" rief
Maremja, und schon war sie auf dem Balken. Als sie in
der Mitte war, sagte er: "Nicht wackeln, sonst fällst
du noch hinein!" "Nun wackle ich gerade!" schrie
sie und stampfte mit dem Fuß auf. Der Balken kippte,
plumps, lag sie im Wasser, ging unter und kam nicht wieder
an die Oberfläche. Wassili seufzte. Er hatte schon so
viel mit ihr erlebt. Aber was sollte er ohne sie anfangen?
Er brach sich einen Stecken aus dem Ufergebüsch, watete
ins Wasser und begann zu suchen.
Ein ganzes Weilchen hat er gesucht. Da kamen zwei Bauern am
Ufer entlang, und riefen: "He, Alterchen, fischst du?"
"Freilich fische ich", sagte Wassili, "nach
meinem Weibchen fische ich, das unten bei der alten Brücke
ins Wasser gefallen ist!". "Du Dummkopf !"
riefen die beiden, "da mußt du unterhalb der Brücke
suchen; sie wird schon weit abgetrieben sein!" "Ich
sehe schon" entgegnete Wassili, "ihr kennt sie nicht,
sie wird auch diesmal gegen den Strom geschwommen sein!"
Und richtig - er hat sie gefunden!....sie herzten und küßten
sich und setzten gemeinsam ihren Weg fort.
Zur
Deutung:
"Meine
Freundin hat den Kopf verloren, weil sie ihr Herz verschenkt
hat." Das nimmt niemand als materielles Geschehen sondern
als ein seelisches. Vielleicht hilft uns das auch bei der
Deutung des kleinen russischen Märchens von Wassilis
Weibchen weiter?
Beginnen wir nicht alle spätestens mit 3 Jahren damit,
gegen den Strom zu schwimmen? "Hast Du wieder genascht?"
fragt die Mutter, und das Kind strahlt: "Nein!"
Es macht sich auf diese Weise mit einer Lüge unabhängig
von der Mutter. Mit 14 Jahren muß man wieder gegen den
Strom schwimmen, um eine individuelle Persönlichkeit
zu entwickeln. Es geht nicht ohne Kämpfe ab, bevor man
ein vernünftiger, ehrlicher, verantwortlicher Mensch
wird.
Vielleicht
habe ich selbst ja auch diesen Wassili und diese Maremja in
mir? Wir kennen doch ähnliche Situationen: "Nehmen
Sie noch ein Stück Kuchen!" "Nein danke, zu
viele Kalorien!" sagt der Verstand. Die Seele stürzt
sich trotzdem ins Vergnügen, und der Verstand sieht zu.
"Trinken Sie noch ein Glas Wein!" "Oh nein,
ich muß noch Auto fahren!" sagt der Verstand. Das
Gefühl genießt, und der Verstand hat Bedenken.
Maremja stürzt (sich) in die Fluten (der Gefühlswelt).
Wassili geht der Sache auf den Grund. Und daß der Verstand
das Gefühl zum Widerspruch reizt, ist auch bekannt. Es
erwidert prompt: "Nun gönne ich es mir gerade!"
Maremja
verbindet sich durch das Erleben mit der Welt - und Wassili
macht durch seinen Überblick Erfahrungen daraus. Mit
Gefühl ohne Verstand kann ich zwar etwas erleben, aber
ich kann nichts daraus lernen. Verstand ohne Gefühl hingegen
hat nichts zum Beurteilen. Die beiden gehören zusammen.
Hat nicht jede Frau einen Wassili in sich – und jeder
Mann eine Maremja?
Märchen
schildern ja seelische Entwicklungswege in Bildern,
und das, was in unserer Seele so schwer durchschaubar durcheinandergeht,
stellt das Märchen in klar von einander unterschiedenen
Rollen "auf die Bühne". Wir ahnen etwas von
unserer Herkunft, der Großmutter, wir spüren in
uns noch die Wärme der Mutter, wir spüren das Kind
in uns, die Verantwortung, uns auf den Weg zu machen, Fortschritte
zu machen, und auch den Wolf haben wir in uns, unsere Ängste.
Ob wir weiblichen oder männlichen Geschlechts sind, wir
kennen die spöttischen Einwände, die die Stiefschwestern
in uns machen, wenn wir uns vorgenommen haben geduldig zu
arbeiten. (--> Aschenputtel), oder die Verachtung der "hochmütigen
Brüder", die uns an unserer Tüchtigkeit und
Klugheit zweifeln machen wollen. Wir können aufatmen:
Märchen verherrlichen weder die Herren der Schöpfung,
noch diskriminieren sie die Frauen, sie schildern menschliche
Entwicklungen in Sinnbildern.
(Frank
Jentzsch, 14.2.2008, 13.9.2008, 5.1.2010)
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