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Allgemeines
zur Bildsprache der Märchen
Für
Kinder? Deutungen
sind nur für Erwachsene gedacht. Kinder
sollen die Märchenbilder ohne Diskussion über
Sinn und Bedeutung aufnehmen dürfen. Dadurch werden sie
in ihnen zur späteren Lebenssicherheit, so ähnlich
als hätten sie eine liebevolle Mutter in der Kindheit
gehabt. Kinder brauchen ja auch zunächst eine gute Ernährung
und nicht Erklärungen zum Kaloriengehalt, zu Spurenelementen
und Cholesterin. Sie sollen erst einmal laufen, springen,
klettern, balancieren, ehe man ihnen etwas über Muskelkontraktionen
und Hebelwirkung in den Gelenken sagt. Ein Gedicht auswendig
zu lernen ist für Kinder auch fruchtbarer als darüber
zu reden, denn das Lernen verleibt es mir ein, und ich werde
reifer - damit ich danach darüber nachdenken kann. Also,
Geduld! Lassen Sie Kinder noch träumerisch durch die
Bilderlandschaften wandern! Ab 16 J. sind sie zwar fähig
darüber zu reden, haben dann
aber andere Interessen.
Für
Erzieher ist es jedoch ganz wichtig, die Bedeutung
derjenigen Märchen zu ahnen, die sie Kindern (und überhaupt
anderen Menschen) vorlesen oder erzählen. Nur wenn sie
selbst ganz einverstanden sind mit dem Inhalt, werden sie
die Zuhörer nicht verunsichern mit ihren Zweifeln. Kinder
suchen beim Erwachsenen Halt und Führung. Wenn er schwankt,
verlieren sie den Halt und werden "ungehalten".
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Für
uns Erwachsene sind Märchen heute eine schwierige Sache, weil
wir sie zunächst mit Geschichten, Romanen, Schauspielen
auf eine Stufe stellen und sie nicht als Sinnbilder nehmen. Die Personen im Märchen
sind jedoch keine Individuen mit individuellem Schicksal,
sondern Bilder für seelische Eigenschaften.
Im
täglichen Leben sind wir selbstverständlich vertraut
mit solchen Bildern für seelische Eigenschaften - und
zwar mit den Gesichtern unserer Mitmenschen. Aus ihnen lesen
wir momentane Stimmungen, seelische Gewohnheiten und endlich
den Charakter des jeweiligen Menschen ab, obwohl wir mit den
Augen vielleicht nur Hell-Dunkel-Unterschiede sehen. Wir lesen
im Gesicht des Gegenüber, ob er fröhlich oder traurig,
zornig oder freundlich ist, ohne daß er es uns erklärt.
Genau so verstehen wir es als Sinnbild, wenn jemand "etwas
auf die leichte Schulter nimmt", wenn er "mir sein
Ohr leiht", wenn er "sein Herz verschenkt"
oder "den Kopf verliert". Vergleichen
Sie einmal die folgenden beiden Aussagen:
1)
Peter hat bei dem Unfall ein Bein verloren, und
Jutta hat eine Niere gespendet. (Materiell gemeint)
2)
Klaus hat den Kopf verloren, weil er sein Herz
verschenkt hat. (im übertragenen Sinne gemeint)
Märchen
sprechen in der zweiten Art zu uns. Märchen schildern
menschheitliche und individuelle Seelenentwicklung in symbolischen
Bildern. Sie sind Sinnbilder menschlicher Entwicklungswege.
Und damit wir nicht nur gedanklich darüber stehen und
urteilen, sondern mit-erleben und dadurch lernen, kleidet
das Märchen seine Inhalte in alltägliche Figuren,
mit denen wir uns identifizieren können. Die inneren
Bilder können in uns zu freilassenden Vorbildern werden,
auch noch nach Jahren.
Die
sinnbildliche Sprache der Märchen war
den Menschen vor 200 bis 300 Jahren sicherlich leichter zugänglich
als uns heute. Sie gingen Sonntags in die Kirche, wo der Pfarrer,
der Priester ihnen die Sinnbilder der Bibel auslegte, sie
mit den Seeleneigenschaften der Zuhörer in Beziehung
brachte. Bei der Jordantaufe kam der heilige Geist in Gestalt
einer Taube auf Jesus herab. Jeder ahnte, was gemeint war,
wenn von der himmlischen Hochzeit gesprochen wurde, zu der
man ein schönes Gewand haben muß. Dem Reichen,
der für seine Vorräte größere Scheunen
bauen will, sagt Christus: "Du Narr, heute nacht wird
man deine Seele von dir fordern." Der Reiche wurde als
der seelisch Hochmütige begriffen, und der Arme als der
Demütige, der vor der Fülle der geistigen Mächte
natürlich bescheiden ist.
Und
so sprechen die Märchen auch in Sinnbildern, wenn Rotkäppchen
vom Wolf verschlungen wird und hernach wieder lebendig aus
seinem Bauch herauskommt. Und die Aschenputtel-Stiefschwestern
sind nicht schwierige Menschen, wie wir sie im Alltag kennenlernen,
sondern Bilder für seelische Extreme, in die ein Mensch
geraten kann. Bei der einen ist die Zehe zu groß, bei
der anderen die Ferse. Die eine kommt nicht nicht auf den
Boden der Tatsachen herunter, sondern tippelt wie ein kleines
Kind auf den Zehen, ist eine Phantastin, Schwärmerin.
Die andere stampft mit der Ferse auf, wenn sie etwas durchsetzen
will, sie kennt nur Messen, Zählen, Wägen, aber
keinen Himmel. Aschenputtel ist das Bild für den Ausgleich,
die Mitte, die wir in uns entwickeln können, sie kennt
Erde und Himmel, leistet geduldig schwere Arbeit und geht
dreimal am Tag zum Grab der Mutter beten: ora et labora. Ihr
paßt der goldene Schuh, den sie durch durch bescheidenes
Einfügen in irdische Pflichten und durch freiwillig hinzugefügtes
geistiges Arbeiten / Meditieren / Beten erlangt hat. Die Aura
hat sich verändert, die Himmelsweisheit ist nicht nur
im Kopf geblieben oder im Gefühl, sondern ist bis in
die Füße gekommen, sie hat sie in ihren Willen,
in ihr Handeln aufgenommen. Das Märchen zeigt, was geschieht,
wenn wir unerwünschte Einseitigkeiten verdrängen
wollen: die "Psychoanalytiker" (Tauben) auf dem
Haselbäumchen durchschauen es. Auch das Auspicken der
Augen am Ende ist keine mittelalterliche Folter sondern ein
Bild dafür, daß die Extreme natürlich blind
sind für die Mitte, sonst wären sie keine Extreme.
Richtige
Märchen stellen
seelische Entwicklungswege in Bildern vor uns hin. Und diese Wege brauchen sicherlich länger
als ein Leben. Man kann sie nicht in vollem Umfang begreifen,
wenn der Tod am Ende eines Erdenlebens ein "Zuletzt"
sein soll. Der Tod ist ein Durchgang. Die vielen Nahtoderlebnisse,
die heute veröffentlicht sind, weisen darauf hin. Warum
haben wir heute Hemmungen, unbefangen diesen Berichten und
Erlebnissen zu vertrauen? Weil wir frei sein wollen. Es verspricht
größere Freiheit, wenn wir für unsere Handlungen,
Gefühle und Gedanken nur in so weit zur Verantwortung
gezogen werden, als andere Menschen sie uns nachweisen können.
Es ist beruhigend zu hören, daß mit dem Tod alles
aus sei, und wir uns das Ausgleichen sparen können. Aber
warum sollte der liebe Gott so kleinlich sein, uns nur ein
Leben als Mann oder Frau, entweder reich oder arm, zum Lernen
zur Verfügung zu stellen?
Zu
den Zwergen,
Nixen, Riesen und anderen Wesen, die in den
Märchen vorkommen: Wir alle wissen: ein Haus wächst
nicht von alleine. Es sind Arbeiter dazu nötig. Ein
Baum wächst nur deshalb "von alleine", weil
wir die Arbeiter nicht sehen. Die Menschen haben
jedoch in früheren Zeiten träumerisch die Wesen
wahrgenommen, die da gewirkt haben. Davon sprechen Märchen
in Bildern. Vor fünfhundert Jahren konnten wir noch im
Einklang mit der Natur in Feld und Wald arbeiten, ohne durch
Motorengeräusche aus dem träumerischen Miterleben
gerissen zu werden. Wir mußten diese Wahrnehmungsfähigkeit
verlieren, mußten das träumerische Erleben verlassen,
um das intellektuelle Denken entwickeln zu können. Da
jeder einzelne Mensch in seiner Biografie die Evolutions-
und Entwicklungsstadien der Menschheit wiederholt, kann man
es in der individuellen Entwicklung noch einmal ablesen. Kleine
Kinder reden oft mit Wesen, die wir Erwachsene nicht sehen.
Für sie ist alles noch belebt. Nach und nach verliert
sich diese Fähigkeit dann zugunsten des Denkens.
Die
Wege im Märchen: Märchen
schildern nun das Stehenbleiben und Verhärten in den
Stiefschwestern oder den hochmütigen Brüdern, zeigen
aber auch den Weg der Jüngsten, derjenigen
Kräfte in uns, die es zu entwickeln gilt, hin zu den
Quellen unseres Ursprungs. Das ist keineswegs ein Zurück;
denn die bleibende Stärke am Ende kommt nur durch die
überwundenen Schwächen zu Stande.

links
oder rechts?
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Bemerkenswert
ist, daß die Märchenhelden oder -heldinnen
meist keine Wegbeschreibung haben oder Hinweisschilder vorfinden, sondern einfach zuversichtlich vorwärtsgehen.
Wenn sie genügend Fortschritte gemacht und alle
Proben bestanden haben, stellt sich ihnen offenbar das
Ziel vor die Nase. Anscheinend ist es nicht wichtig,
auf welchem Wege man das Ziel erreicht - Hauptsache
man strengt sich an! (Vergl. "Die Gänsehirtin
am Brunnen",Brüder
Grimm KHM 179 : " ... er langte endlich bei
dem Haus der Alten an, als er eben niedersinken wollte."
Er steigt und steigt, und die Probe besteht in
diesem Falle darin, daß er sein Widerstreben gegen
das Schicksal aufgeben soll.)
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Eigene
Erfahrung: Die
Märchen muten uns allerdings etwas zu. Wir dürfen
uns mit der einen oder der anderen Gestalt in ihnen identifizieren,
je nachdem, welche uns sympatisch ist. Das ist ihr Kunstgriff.
Dadurch durchleben wir aber auch ihren Weg bis zum Ende. Und
durch das Erleben lernen wir mehr, als wenn uns jemand eine
Moralpredigt mit erhobenem Zeigefinger gehalten hätte:
"Du mußt dich so und so verhalten, dann geht es
gut aus." Das wäre nur ein Gedanke geblieben, so
aber wird es eigene Erfahrung.
(Frank
Jentzsch 12.2.2008 / 21.2.2008 / 19.8.2008 / 23.9.2008 / 8.1.2009
/ 19.11.2010)
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