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Die
Skelettfrau (Erzählfassung
.Frank Jentzsch, siehe -->Google
unter Clarissa Pincola Estés: "Die Wolfsfrau", oder Wilhelm-Heyne-Verlag München 1993, ISBN 3-453-13226-2,
englische Fassung -->Google: "The Skeleton Woman")
1)
Text
Viele Jahre vergingen,
bis niemand mehr wußte, gegen welches Gesetz der Sippe
das Mädchen einst verstoßen hatte. Nur die Alten
erinnerten sich noch, daß ihr Vater sie zur Strafe von
einem hohen Felsvorprung gestoßen hatte, hinab ins Eismeer,
wo sie ertrunken war. Lange Zeit lag sie auf dem Grunde der See. Die Fische fraßen
ihre kohlschwarzen Augen und nagten das Fleisch von ihrem
Gebein. Um und um wendete die Strömung das Gerippe und
trieb es mal hierhin, mal dorthin, unter dem Eis.
Die
Jäger der Gegend mieden die Bucht, denn es hieß,
dort ginge der Geist der Skelettfrau um. Eines Tages kam ein Jäger dorthin, der nichts davon wußte.
Er lenkte sein Kajak in die Bucht, warf den Köder aus
und ließ das Boot treiben. Wie hätte er ahnen können,
daß sich der Haken sogleich in den Rippen des Skeletts
verfing? Der Jäger aber spürte plötzlich, daß
die Leine sich straffte: "Ah, was für ein Glück!"
dachte er, "jetzt habe ich einen schweren Fisch am Haken.
Der wird mir für viele Tage Nahrung geben, an denen ich
nicht hinausfahren muß. Das Boot schwankte
in den Wellen, fast wäre es umgeschlagen, aber mit aller
Kraft holte der Mann die Leine ein. Unten im Wasser bäumte
sich das Skelett wie wild auf und versuchte loszukommen, aber
je mehr es sich bäumte und wehrte, desto mehr verstrickte
es sich in der Leine des Jägers. Der zog und zog und hievte endlich das zappelnde und klappernde
Skelett aus dem Wasser empor. Es war über und über
mit Muscheln und allerlei Getier bedeckt. "Aiiii, Iiii"
schrie er bei seinem Anblick, "Aiiii, Uaaa". Er versetzte dem Scheusal einen Hieb mit dem Paddel, wendete
das Kajak und floh mit wilden Schlägen durch die rauhe
See. Die Angst verlieh ihm große Kräfte, aber das
Skelett hing fest an seiner Leine, und die wollte der Jäger
nicht opfern.
Nach langer Flucht
erreichte er endlich sein Ufer. An Land aber folgte ihm die
Skelettfrau, wohin er auch rannte. Über Eis und Schnee;
über Hügel und durch Senken war sie ihm immer auf
den Fersen mit ihrem klappernden Gebein. "Fort mit
dir!", schrie der Jäger, und in seiner Verwirrung
rannte er quer über einige Fische, die dort zum Trocknen
lagen.
Die Skelettfrau packte einen dieser Fische, während der
Mann sie hinter sich herschleifte, schob ihn sich zwischen
die Zähne und kaute. So lange hatte sie keine menschliche
Nahrung mehr zu sich genommen!
Dann erreichte
der Jäger sein Iglu, kroch hastig hinein, warf sich keuchend
auf seine Schlafbank. Gerettet war er und dankte den guten
Geistern, daß er dem Verderben noch einmal entronnen
war. Als sein Herz wieder ruhiger schlug, erhob er sich und zündete
die Tranlampe an. Was sah er? Auf der gegenüberliegenden Schlafbank lag ein wirrer
Haufen Knochen, ein Knie steckte zwischen den Rippen, das
andere hing über der Schulter - alles war in seine Leine
verstrickt.
Kam es von der
Einsamkeit seiner langen Nächte, lag es am warmen Licht
der Tranlampe, daß ihm der Totenkopf plötzlich
nicht mehr so gräßlich erschien? Der Jäger
empfand Mitleid mit dem Gerippe! Behutsam begann er den Haufen
zu entwirren und die Knochen an ihre richtige Stelle zu rücken.
"Na, na, na...."
summte er leise vor sich hin und verbrachte die halbe Nacht
damit, alle Knochen der Skelettfrau behutsam zu lösen,
sie in die rechte Ordnung zu legen, und sie schließlich
sogar in warme Felle zu kleiden, damit sie nicht fröre.
Danach schlief der Gute erschöpft ein, und während
er dalag und träumte, rann eine helle Träne über
seine Wange. Das sah die Skelettfrau, kroch heimlich an seine
Seite, brachte ihren Mund an die Wange des Mannes und trank
die eine Träne. Diese Träne löschte den brennenden
Durst eines ganzen Lebens. Sie trank und trank,
bis sie satt war, und dann ergriff sie das Herz des Mannes,
das gleichmäßig und stark in seiner Brust schlug. Sie ergriff das
Herz, trommelte mit ihren Knochenhänden darauf und sang
dazu. "Oh, Fleisch, Fleisch, Fleisch", so sang sie.
"Oh, Haut, Haut, Haut" Und je länger sie sang,
desto mehr Fleisch legte sich um ihre Knochen, desto mehr
Haut spannte sich um ihr Fleisch. Sie sang alles herbei, was
sie brauchte; glänzende dichte Haare und kohlschwarze
Augen, eine feine Nase und scharfe Ohren, starke geschickte
Hände, breite Hüften, Fettpolster überall und
warme, große Brüste. Und als sie damit
fertig war, sang sie die Kleider des Mannes von seinem Leib
und kroch zu ihm unter die Decke. Sie gab ihm die mächtige
Trommel seines Herzens zurück. Sie schmiegte sich an
ihn, Fleisch an Fleisch, Haut an lebendige Haut. Eng und fest
umschlungen, so erwachten die beiden.
Von diesem Tag
an, so sagen die Alten, kannten die beiden keinen Mangel mehr.
Die Freunde der Frau, die Bewohner des Meeres, beschützen
sie und sorgten dafür, daß der Jäger immer
mit reicher Beute von seinen Jagdzügen heimkehrte.
2)
Deutung
Bei
einem Innuit-Märchen erwartet man zunächst - eingedenk
der Völkerbewegungen von Sibirien herüber - Anklänge
an Schamanenzauber. Umso mehr staunt man, wenn man christliche
Motive entdeckt. Was ist an dem Märchen christlich? Nun,
es fängt an wie mit der Vertreibung von Adam und Eva
aus dem Paradies. In beiden Fällen wird jemand aus den
behütenden Armen des Vaters verstoßen oder entlassen.
Kindlicher Gehorsam und kindliche Abhängigkeit enden.
Im
Märchen von der Skelettfrau hat ein junges Mädchen
wohl gegen ein von Alters her gültiges Gesetz der Sippe
verstoßen. Der Vertreter des Gesetzes, der Vater, bestraft
es mit dem Tod.
1)
Schneidet er sich selber die Möglichkeit der Weiterentwicklung
ab, indem er das Kind tötet? Ist ihm das Festhalten an
alten Gesetzen mehr wert als das zukünftige Leben? Das
Skelett = Bild toter Ordnung?
2)
Oder stößt er sie aus dem Stammeszusammenhang aus
und schickt die junge Kraft, die Tochter, damit auf den Weg
der Entwicklung? Die Menschen wurden im Laufe ihrer Entwicklung
aus der göttlichen Führung entlassen. Sie verloren
ihre Hellsichtigkeit, wurden blind für die Folgen ihres
Handelns. Dadurch konnten sie sich frei fühlen und selbständig
werden. Was hat die Menschheit daraufhin nicht alles gegen
die Lebenszusammenhänge auf der Erde gesündigt!
Wir können alles machen, was das eigene Leben und das
der Erde schädigt. Diese Schädigungen will der Mensch
nicht sehen, denn jede Einsicht bringt Verantwortung mit sich
und fordert zum Handeln auf. Er gefällt sich stattdessen
darin, die Lebensvorgänge zu manipulieren und für
seine Zwecke auszubeuten. Er setzt an die Stelle der Ehrfurcht
vor den Lebenszusammenhängen seinen Ehrgeiz, selbst etwas
zu verändern: homo faber. Aber seine Systeme sind kurzsichtig
und schaden dem ganzen Zusammenhang. Das Skelett ist ein Bild
seiner lieblosen und leblosen Ordnung.
In
dieser scheinbar verfahrenen Situation erscheint der fremde
junge Jäger. Der ist ein Bild für entwicklungsfähige
Geisteskraft im Menschen, die etwas auf`s Korn nimmt, die
Überblick und Ziel hat, und die sich auf dem schwankenden
Boden des Meeres, der imaginativen Lebenswelt, sicher bewegt.
Der fremde Jäger erschrickt darüber, daß da
etwas abgestorben ist. Wer erschrecken kann, hat noch Leben
in sich.
In
den Tiefen des Meeres treiben - ins Unbewußte verdrängt
- die Folgen des lebensfremden egoistischen Denkens dahin.
Der junge Jäger zieht sie ohne Absicht ans Licht, erschrickt,
will davor fliehen. Diese Folgen, das Tote, die Schäden,
erweisen sich aber mit ihm untrennbar verbunden. Das wird
in dem Bild seiner Fangleine und endlich des Iglu dargestellt,
dem Symbol des Erdenrundes. Die Schäden, die Folgen sind
zunächst verwirrt, verwirren den Betrachter und üben
eine abstoßende Wirkung dadurch aus.
Der
junge fremde Jäger, der in die Bucht gefahren kommt,
wird als selbständig geschildert, denn von ihm wird gesagt: "… lag es an den vielen einsamen Nächten,
die er in seinem Igloo verbracht hatte….?"
Er ist kein Stammesmensch mehr, er ist ein Individuum, er
kann allein sein.
Der
Jäger erschrickt über das zappelnde und klappernde
Skelett, das er aus der Tiefe des Vergessens ans Licht bringt.
Wer noch erschrecken kann, ist innerlich noch nicht erkaltet.
Der Jäger erkennt, daß etwas nicht in Ordnung ist,
während viele Menschen heute sich an die Mißstände
gewöhnt haben. Er erschrickt über das Tote, also
ist er noch nicht ans Tote angepaßt. Er bringt Ordung
des Lebens in das Chaos. Er stellt die richtigen Zusammenhänge
her: Er macht aus einer Summe toter Teile einen Organismus.
Dabei steckt er Arbeit hinein. Das heißt, er muß
zur Erkenntnis auch noch seinen Willen betätigen.
Er
nimmt alles mit in den Schlaf, und im Schlaf erlebt er das
Leiden der Skelettfrau so intensiv, daß er weinen muß.
Er hat Mitleid, das ist der christliche Impuls der Geschichte.
Der Jäger hat Mitleid, und nachdem er das Mitleiden ertragen
hat, entwirrt er, bringt er Licht in die Sache, ordnet er.
Freiwilliges, gesteigertes Interesse wird zu wahrer Liebe.
Beim normalen Verliebtsein mache ich den Anderen schön
und stark. Das vergeht aber, wenn der Trieb befriedigt ist.
Hier jedoch beginnt es mit einem abstoßenden Skelett
ohne Schönheit. Seine Liebe bringt wahre und bleibende
Verwandlung. Der Jäger und die junge Frau erwachen zu
der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit.
Der fremde Jäger bringt mit gesteigertem Interesse, mit
Liebe, Ordnung in das Abgestorbene. Sein Mitleid erwärmt
und belebt. Wärme erlöst kalten Intellekt.
Das
Leiden der Skelettfrau ist herzergreifend, denn die Skelettfrau
ergreift sein Herz, das stark und gleichmäßig in
seiner Brust schlägt und trommelt darauf. Sie geht ihm
zu Herzen. Ihre Sehnsucht spricht Wünsche aus. Seine
Herzenskräfte erfüllen die Wünsche (mit Fleisch
und Haut und Haaren u.a.m.).
Sie ergreift sein Herz. Sie ist "herzergreifend".
Hätte er kein Herz, das sie ergreifen und in Schwingung
versetzen könnte, so ginge es nicht. Sie appelliert an
seine Herzenskräfte. Lateinisch: ad pellere = anschlagen.
Sie trommelt auf seinem Herzen. Alles Leben verläuft
in Rhythmen. Sie verbindet sich mit den Lebenskräften,
singt alles herbei, was sie zum Leben braucht. Vor der Sprache
war der Gesang. (Oder: das ursprüngliche Singen vertrocknete
zum Sprechen). Lebenskräfte tönen.
Leben
(Fleisch) lagert sich an die Knochen. Üppige weibliche
Formen verheißen künftige Quellen des Lebens und
Weiterentwicklung.
(Frank
Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008)
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