Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Die Skelettfrau (Text siehe -->Google unter Clarissa Pincola Estés: "Die Wolfsfrau", oder Wilhelm-Heyne-Verlag München 1993, ISBN 3-453-13226-2, englische Fassung -->Google: "The Skeleton Woman")


Deutung

Bei einem Innuit-Märchen erwartet man zunächst - eingedenk der Völkerbewegungen von Sibirien herüber - Anklänge an Schamanenzauber. Umso mehr staunt man, wenn man christliche Motive entdeckt. Was ist an dem Märchen christlich? Nun, es fängt an wie mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. In beiden Fällen wird jemand aus den behütenden Armen des Vaters verstoßen oder entlassen. Kindlicher Gehorsam und kindliche Abhängigkeit enden.

Im Märchen von der Skelettfrau hat ein junges Mädchen wohl gegen ein von Alters her gültiges Gesetz der Sippe verstoßen. Der Vertreter des Gesetzes, der Vater, bestraft es mit dem Tod.

1) Schneidet er sich selber die Möglichkeit der Weiterentwicklung ab, indem er das Kind tötet? Ist ihm das Festhalten an alten Gesetzen mehr wert als das zukünftige Leben? Das Skelett = Bild toter Ordnung?

2) Oder stößt er sie aus dem Stammeszusammenhang aus und schickt die junge Kraft, die Tochter, damit auf den Weg der Entwicklung? Die Menschen wurden im Laufe ihrer Entwicklung aus der göttlichen Führung entlassen. Sie verloren ihre Hellsichtigkeit, wurden blind für die Folgen ihres Handelns. Dadurch konnten sie sich frei fühlen und selbständig werden. Was hat die Menschheit daraufhin nicht alles gegen die Lebenszusammenhänge auf der Erde gesündigt! Wir können alles machen, was das eigene Leben und das der Erde schädigt. Diese Schädigungen will der Mensch nicht sehen, denn jede Einsicht bringt Verantwortung mit sich und fordert zum Handeln auf. Er gefällt sich stattdessen darin, die Lebensvorgänge zu manipulieren und für seine Zwecke auszubeuten. Er setzt an die Stelle der Ehrfurcht vor den Lebenszusammenhängen seinen Ehrgeiz, selbst etwas zu verändern: homo faber. Aber seine Systeme sind kurzsichtig und schaden dem ganzen Zusammenhang. Das Skelett ist ein Bild seiner lieblosen und leblosen Ordnung.

In dieser scheinbar verfahrenen Situation erscheint der fremde junge Jäger. Der ist ein Bild für entwicklungsfähige Geisteskraft im Menschen, die etwas auf`s Korn nimmt, die Überblick und Ziel hat, und die sich auf dem schwankenden Boden des Meeres, der imaginativen Lebenswelt, sicher bewegt. Der fremde Jäger erschrickt darüber, daß da etwas abgestorben ist. Wer erschrecken kann, hat noch Leben in sich.

In den Tiefen des Meeres treiben - ins Unbewußte verdrängt - die Folgen des lebensfremden egoistischen Denkens dahin. Der junge Jäger zieht sie ohne Absicht ans Licht, erschrickt, will davor fliehen. Diese Folgen, das Tote, die Schäden, erweisen sich aber mit ihm untrennbar verbunden. Das wird in dem Bild seiner Fangleine und endlich des Iglu dargestellt, dem Symbol des Erdenrundes. Die Schäden, die Folgen sind zunächst verwirrt, verwirren den Betrachter und üben eine abstoßende Wirkung dadurch aus.

Der junge fremde Jäger, der in die Bucht gefahren kommt, wird als selbständig geschildert, denn von ihm wird gesagt: "… lag es an den vielen einsamen Nächten, die er in seinem Igloo verbracht hatte….?" Er ist kein Stammesmensch mehr, er ist ein Individuum, er kann allein sein.

Der Jäger erschrickt über das zappelnde und klappernde Skelett, das er aus der Tiefe des Vergessens ans Licht bringt. Wer noch erschrecken kann, ist innerlich noch nicht erkaltet. Der Jäger erkennt, daß etwas nicht in Ordnung ist, während viele Menschen heute sich an die Mißstände gewöhnt haben. Er erschrickt über das Tote, also ist er noch nicht ans Tote angepaßt. Er bringt Ordung des Lebens in das Chaos. Er stellt die richtigen Zusammenhänge her: Er macht aus einer Summe toter Teile einen Organismus. Dabei steckt er Arbeit hinein. Das heißt, er muß zur Erkenntnis auch noch seinen Willen betätigen.

Er nimmt alles mit in den Schlaf, und im Schlaf erlebt er das Leiden der Skelettfrau so intensiv, daß er weinen muß. Er hat Mitleid, das ist der christliche Impuls der Geschichte.

Der Jäger hat Mitleid, und nachdem er das Mitleiden ertragen hat, entwirrt er, bringt er Licht in die Sache, ordnet er. Freiwilliges, gesteigertes Interesse wird zu wahrer Liebe. Beim normalen Verliebtsein mache ich den Anderen schön und stark. Das vergeht aber, wenn der Trieb befriedigt ist. Hier jedoch beginnt es mit einem abstoßenden Skelett ohne Schönheit. Seine Liebe bringt wahre und bleibende Verwandlung. Der Jäger und die junge Frau erwachen zu der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit.
Der fremde Jäger bringt mit gesteigertem Interesse, mit Liebe, Ordnung in das Abgestorbene. Sein Mitleid erwärmt und belebt. Wärme erlöst kalten Intellekt.

Das Leiden der Skelettfrau ist herzergreifend, denn die Skelettfrau ergreift sein Herz, das stark und gleichmäßig in seiner Brust schlägt und trommelt darauf. Sie geht ihm zu Herzen. Ihre Sehnsucht spricht Wünsche aus. Seine Herzenskräfte erfüllen die Wünsche (mit Fleisch und Haut und Haaren u.a.m.).
Sie ergreift sein Herz. Sie ist "herzergreifend". Hätte er kein Herz, das sie ergreifen und in Schwingung versetzen könnte, so ginge es nicht. Sie appelliert an seine Herzenskräfte. Lateinisch: ad pellere = anschlagen. Sie trommelt auf seinem Herzen. Alles Leben verläuft in Rhythmen. Sie verbindet sich mit den Lebenskräften, singt alles herbei, was sie zum Leben braucht. Vor der Sprache war der Gesang. (Oder: das ursprüngliche Singen vertrocknete zum Sprechen). Lebenskräfte tönen.

Leben (Fleisch) lagert sich an die Knochen. Üppige weibliche Formen verheißen künftige Quellen des Lebens und Weiterentwicklung.

 

(Frank Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008, )

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