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Wassilis
Weibchen (F.
Jentzsch nach Afanasjew: "Das zanksüchtige Weib"
ind Russische Märchen, Herausgeber Dr. E. Pomeranzewa,
Akademie-Verlag Berlin 1965)
1)
Text : "Wassili
hatte ein Weibchen, na, ihr wißt schon, was für
eine: Immer gab sie Widerworte. Wollte er die Wiese mähen,
um Grünfutter zu machen: "Nein, erst Holz hacken!"
Wollte er Gerste säen, weil er an sein Bierchen dachte:
"Nein, Hafer!"
Einmal im Frühling - am seidenblauen Himmel segelten
die kleinen weißen Wölkchen dahin, auf allen knospenden
Zweigen zwitscherten die Vögel aus voller Kehle, und
es roch nach aufgepflügter Erde – da waren die
beiden zusammen unterwegs, kamen an ein Flüßchen.
Das Schmelzwasser im Frühjahr hatte die Brücke davongerissen,
nur ein langer Balken lag darüber.
"Na warte“, dachte Wassili, „hier kriege
ich sie!",. "Ich gehe zuerst!" sprach er. "Nein,
ich!" rief sie, und schon war sie auf dem Balken. Als
sie in der Mitte war, sagte er: "Maremja, vorsichtig,
nicht wackeln, sonst fällst du noch hinein!" "Nun
wackle ich gerade!" schrie sie und stampfte mit dem Fuß
auf. Der Balken kippte, plumps, lag sie im Wasser, ging unter
und kam nicht wieder zum Vorschein. Wassili seufzte. Er hatte
schon so viel mit ihr erlebt, was sollte er ohne sie anfangen?
Er brach sich einen Stecken aus dem Ufergebüsch, watete
ins Wasser und begann zu suchen.
Ein ganzes Weilchen hat er so gstochert, da kamen zwei Bauern
am Ufer entlang, sahen sich das ein Weilchen mit an, dann
riefen sie: "He, Alterchen, was machst du da, fischst
du?" "Freilich fische ich", sagte Wassili,
"nach meinem Weibchen fische ich, das unten bei der alten
Brücke ins Wasser gefallen ist!". "O, du Dummkopf
!" riefen die beiden , "da mußt du unterhalb
der Brücke suchen; sie wird schon weit fortge- trieben
sein, schnell schnell!" "Ach" entgegnete Wassili,
und wiegte lächelnd den Kopf, "ihr kennt mein Frauchen
nicht, sie wird auch diesmal gegen den Strom geschwommen sein!"
Und richtig - er hat sie noch gefunden! Sie spuckte das bißchen
Wasser aus, das sie geschluckt hatte, war gesünder und
schöner als je zuvor und hatte sogar noch einen prächtigen
Fisch gefangen. Sie nahmen sich in die Arme, herzten und küßten
sich, und setzten gemeinsam ihren Weg fort."
2)
Deutung
Nehmen
wir einmal diese Geschichte als Bild, als Gleichnis. (Ich
schaue dabei nur auf die Motive, die auch in der Originalfassung
bei Afanasjew zu finden sind.) Da "schwimmt jemand
gegen den Strom", und "einer behält
den Überblick" und "geht der Sache
auf den Grund". Wann müssen wir selbst spätestens
gegen den Strom schwimmen? Ungefähr mit drei Jahren.
Die Mutter fragt: "Hast du genascht?" – "Nein!"
und das Kind freut sich, denn nun kann es lügen und hat
damit ein Stück Unabhängigkeit errungen. Mit 14
Jahren muß der Mensch wieder gegen den Strom schwimmen.
Je vernünftiger die Eltern sind, desto unvernünftiger
muß das Kind sich verhalten, um sich von den Eltern
lösen zu können, so habe ich manchmal den Eindruck.
Wenn wir die Geschichte von Wassilis Weibchen am Stammtisch
erzählen, sagt gewiß einer der Männer: "Genau
wie meine Alte, die ist auch immer dagegen!" Aber vielleicht
haben wir ja alle - ob Frau oder Mann - einen Wassili und
eine Maremja in uns selber? Nehmen wir an, wir wären
eingeladen, und der Gastgeber nötigte uns, noch ein Glas
Wein zu trinken. Da stürzt sich die Seele doch ins Vergnügen,
und der Verstand steht am Ufer und warnt: "Ich muß
noch Auto fahren, Vorsicht, Promille, Führerschein!"
Und
daß der Verstand mit seiner "pedantischen Vernünftigkeit"
das Gefühl herausfordert, nun gerade etwas aus Lust und
Laune zu tun, das kennen wir auch: "Nein, das gönn`ich
mir jetzt, auch wenn es unvernünftig ist!" - Es
wäre auch wirklich schlimm, wenn wir nur immer das tun
würden, was wir bereits überschauen können,
denn dann würden wir nichts mehr dazulernen. Dazulernen
können wir nur durch Taten, deren Entwicklung und deren
Folgen wir nicht vorhersehen - und dazu verhilft uns außer
dem Schicksal unser Gefühl, daß sich immer wieder
in neue Abenteuer stürzt und damit auch neues Schicksal
schafft.
(Frank
Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008, 5.6.2016)
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