Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Wassilis Weibchen (F. Jentzsch nach Afanasjew: "Das zanksüchtige Weib" ind Russische Märchen, Herausgeber Dr. E. Pomeranzewa, Akademie-Verlag Berlin 1965)


1) Text :

"Wassili hatte ein Weibchen, na, ihr wißt schon, was für eine: Immer gab sie Widerworte. Wollte er die Wiese mähen, um Grünfutter zu machen: "Nein, erst Holz hacken!" Wollte er Gerste säen, weil er an sein Bierchen dachte: "Nein, Hafer!"
Einmal im Frühling - am seidenblauen Himmel segelten die kleinen weißen Wölkchen dahin, auf allen knospenden Zweigen zwitscherten die Vögel aus voller Kehle, und es roch nach aufgepflügter Erde – da waren die beiden zusammen unterwegs, kamen an ein Flüßchen. Das Schmelzwasser im Frühjahr hatte die Brücke davongerissen, nur ein langer Balken lag darüber.
"Na warte“, dachte Wassili, „hier kriege ich sie!",. "Ich gehe zuerst!" sprach er. "Nein, ich!" rief sie, und schon war sie auf dem Balken. Als sie in der Mitte war, sagte er: "Maremja, vorsichtig, nicht wackeln, sonst fällst du noch hinein!" "Nun wackle ich gerade!" schrie sie und stampfte mit dem Fuß auf. Der Balken kippte, plumps, lag sie im Wasser, ging unter und kam nicht wieder zum Vorschein. Wassili seufzte. Er hatte schon so viel mit ihr erlebt, was sollte er ohne sie anfangen? Er brach sich einen Stecken aus dem Ufergebüsch, watete ins Wasser und begann zu suchen.
Ein ganzes Weilchen hat er so gstochert, da kamen zwei Bauern am Ufer entlang, sahen sich das ein Weilchen mit an, dann riefen sie: "He, Alterchen, was machst du da, fischst du?" "Freilich fische ich", sagte Wassili, "nach meinem Weibchen fische ich, das unten bei der alten Brücke ins Wasser gefallen ist!". "O, du Dummkopf !" riefen die beiden , "da mußt du unterhalb der Brücke suchen; sie wird schon weit fortge- trieben sein, schnell schnell!" "Ach" entgegnete Wassili, und wiegte lächelnd den Kopf, "ihr kennt mein Frauchen nicht, sie wird auch diesmal gegen den Strom geschwommen sein!"
Und richtig - er hat sie noch gefunden! Sie spuckte das bißchen Wasser aus, das sie geschluckt hatte, war gesünder und schöner als je zuvor und hatte sogar noch einen prächtigen Fisch gefangen. Sie nahmen sich in die Arme, herzten und küßten sich, und setzten gemeinsam ihren Weg fort.
"

2) Deutung

Nehmen wir einmal diese Geschichte als Bild, als Gleichnis. (Ich schaue dabei nur auf die Motive, die auch in der Originalfassung bei Afanasjew zu finden sind.) Da "schwimmt jemand gegen den Strom", und "einer behält den Überblick" und "geht der Sache auf den Grund". Wann müssen wir selbst spätestens gegen den Strom schwimmen? Ungefähr mit drei Jahren. Die Mutter fragt: "Hast du genascht?" – "Nein!" und das Kind freut sich, denn nun kann es lügen und hat damit ein Stück Unabhängigkeit errungen. Mit 14 Jahren muß der Mensch wieder gegen den Strom schwimmen. Je vernünftiger die Eltern sind, desto unvernünftiger muß das Kind sich verhalten, um sich von den Eltern lösen zu können, so habe ich manchmal den Eindruck.
Wenn wir die Geschichte von Wassilis Weibchen am Stammtisch erzählen, sagt gewiß einer der Männer: "Genau wie meine Alte, die ist auch immer dagegen!" Aber vielleicht haben wir ja alle - ob Frau oder Mann - einen Wassili und eine Maremja in uns selber? Nehmen wir an, wir wären eingeladen, und der Gastgeber nötigte uns, noch ein Glas Wein zu trinken. Da stürzt sich die Seele doch ins Vergnügen, und der Verstand steht am Ufer und warnt: "Ich muß noch Auto fahren, Vorsicht, Promille, Führerschein!"

Und daß der Verstand mit seiner "pedantischen Vernünftigkeit" das Gefühl herausfordert, nun gerade etwas aus Lust und Laune zu tun, das kennen wir auch: "Nein, das gönn`ich mir jetzt, auch wenn es unvernünftig ist!" - Es wäre auch wirklich schlimm, wenn wir nur immer das tun würden, was wir bereits überschauen können, denn dann würden wir nichts mehr dazulernen. Dazulernen können wir nur durch Taten, deren Entwicklung und deren Folgen wir nicht vorhersehen - und dazu verhilft uns außer dem Schicksal unser Gefühl, daß sich immer wieder in neue Abenteuer stürzt und damit auch neues Schicksal schafft.

(Frank Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008, 5.6.2016)


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