Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Das tapfere Schneiderlein (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 20, --> Originaltext-Ausschnitt)

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Deutung dreier Sinnbilder im Märchen, die eine geistige Entwicklung im Menschen schildern. Der Schneider im Märchen ist ein Sinnbild für das intellektuelle Denken, das willkürlich zerschneidet, analysiert und nach seinem Gutdünken wieder zusammennäht. Das muß aber nicht das Ende der Entwicklung sein, wie das Märchen zeigt:

1) Das tapfere Schneiderlein sitzt im Baum über den beiden Riesen. Es reizt die schlafenden Riesen mit Steinwürfen, sich gegenseitig totzuschlagen. Das findet auch in uns selber statt, wenn wir unsere Lebenskräfte zum Denken verwenden, d.h. die Riesenkräfte "unten" (im Leib) werden in den Überblick "oben" (im Kopf) verwandelt, wobei der Baum ein Bild für Rückenmark und Nerven-Sinnes-Organisation sein kann.

2) Das Schneiderlein springt hinter einen Baum,und das Einhorn rennt sein Horn im Baum fest. Daraufhin legt das Schneiderlein dem Einhorn das mitgebrachte Seil um den Hals, nimmt seine Axt und haut das Horn frei. Dann kann er das Tier zum König führen. Den Überblick hat das Schneiderlein inzwischen offenbar in konzentriertes Denken verwandelt. Man bedenke einmal, wie wir uns konzentrieren, wie wir uns z.B. bei Konzentrationsübungen ein Bild oder eine Figur vorstellen, "vor Augen führen". Da konzentrieren sich Bildekräfte vor der Stirn. Dafür ist das Horn mitten auf der Stirn ein Bild. Wenn der Mensch sich nun mit diesem "Horn" in fixe Ideen verrennt, dann sitzt er in der Klemme. Macht das nicht der Naturwissenschaftler heute, der Biologie studiert und keine Lebenskräfte kennt? Das Schneiderlein löst das Horn aus der festgefahrenen Situation. Es befreit das Denken zum Lebendigen Denken, von dem Platon spricht. Dadurch werden ihm übersinnliche Wahrnehmungen möglich. Seine ungeläuterten Triebe und Begierden, die vorher von ihm ausgingen und auf die Welt wirkten, kommen nun in der Gestalt von bedrohlichen Tieren auf ihn zu.

3) Die wilde Sau kommt wütend auf das tapfere Schneiderlein losgestürmt. Das Schneiderlein "sprang in eine Kapelle, die in der Nähe stand", das Schwein hinter ihm her. Der Schneider springt sogleich durch das Fenster wieder hinaus, hüpft um die Kapelle herum und schlägt die Tür zu. Da könnte man meinen, das wäre eine schöne Schweinerei, die wilde Sau in eine Kirche zu sperren. Aber wenn man es wiederum als Bild für seelische Entwicklungen nimmt, wird es doch verständlich. In dem Vortrag "Die Mission der Andacht", Berlin am 28.10.1909 sagt R. Steiner u.a.: "....Andacht ist die Selbsterziehung der Seele von den dunklen Trieben und Instinkten, von den Begierden und Leidenschaften des Lebens zu den moralischen Idealen des Lebens." Dafür ist die in die Kapelle gesperrte Sau ein zutreffendes Bild. Die Mönche seit dem Mittelalter üben, niedere Triebe in Andacht zu verwandeln. Wenn es gelingt, eröffnet sich eine höhere Einsicht in geistige Welten: das Fenster der Kapelle. Die Kapelle steht also nicht zufällig in der Nähe, sondern sie ist die erübte "Kapelle".

(Frank Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008, 19.6.2011, 7.3.2020)