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Der
süße Brei
(Brüder Grimm, Kinder-
und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 103)
1)
Text:
Es
war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner
Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging
das Kind hinaus in den Wald und begegnete ihm da eine alte
Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm
ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: »Töpfchen,
koche«, so kochte es guten süßen Hirsenbrei,
und wenn es sagte: »Töpfchen, steh«, so hörte
es wieder auf zu kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und
nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen
süßen Brei, sooft sie wollten.
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach
die Mutter: »Töpfchen, koche«, da kocht es,
und sie ißt sich satt; nun will sie, daß das Töpfchen
wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht.
Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand
hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus
voll, und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt‘s
die ganze Welt satt machen, und ist die größte
Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen.
Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da
kommt das Kind heim und spricht nur: »Töpfchen,
steh«, da steht es und hört auf zu kochen; und
wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen.
2)
Deutung
Mutter
und Kind sind Sinnbilder für alte und junge Kräfte
im Menschen. Wenn die Gewohnheiten erstarrt sind, Überlieferungen
nicht mehr befriedigen und sättigen, tritt Sehnsucht
nach den Quellen des Lebens ein. Dazu müssen sich die
jungen Kräfte im Menschen auf den Weg machen, Fortschritte
machen.
Die
Alte im Walde steht für Lebenskräfte im Unbewußten,
zu denen wir wieder bewußt Verbindung aufnehmen
können, wenn wir uns für sie öffnen.
Sinnbild für dieses Öffnen ist das Töpfchen.
Stellen wir uns das Töpfchen so vor, wie es früher auf offenem Feuer kochte, nämlich
mit einem runden Boden (der die Hitzespannungen gleichmäßig
verteilte), und einem sich nach oben öffnendem
Rand. Die Kugelform des Bauches steht für das Individuum,
das Ich, der sich öffnende Rand für das Sich-Öffnen
nach oben, die Hinwendung zu himmlischen Kräften. |
Hirse,
Korngetreide war der Inbegriff menschlicher Ernährung. Nur
das Kind im Menschen, das zu den Quellen vorgedrungen ist,
hat Vollmacht über das Kochen. Die "Mutter" beherrscht es nicht: "Aber sie wußte das Wort
nicht..." Sie ist haltlos ihrer Gier ausgeliefert,
kann nicht maßhalten "....und ist die größte
Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen." Vielleicht ist der Vergleich mit unserem heutigen Zwang zum
Wirtschaftswachstum erlaubt? Warum müssen Autohersteller
aller drei Monate ein neues Modell mit einer neuen Karosserie
herausbringen? Neuer ... größer ... schneller ...? Das
ist ein
Überfluß, der nicht beherrscht wird.
Endlich,
wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das
Kind heim und spricht nur: "Töpfchen steh",
da steht es und hört auf zu kochen; und wer wieder in
die Stadt wollte, der mußte sich durchessen."
Man muß sich auch heute noch anstrengen, um in die
Stadt zu kommen, d.h. um selbständig zu werden.
Im Mittelalter, als in weiser Voraussicht der Menschheitsentwicklung Märchen unters Volk gebracht wurden, war man auf dem Lande von der Natur geführt,
war man ein Kind der Natur. Die Jahres- und Tageszeiten, Wind,
Wetter, Regen und Schnee, Sonne, Mond und Sterne hatten ihren
Einfluß auf die Bearbeitung des Bodens, auf Säen,
Pflegen und Ernten. Der Bauer war nicht frei, erkannte diese Abhängigkeit
aber an. Stadtluft
machte frei, weil unabhängig von den Naturrythmen. In
der Stadt konnte man sich als idividueller Mensch freier fühlen. Dort wurde gehandelt, wurden angelieferte Nahrungsmittel
in Gasthäusern verkauft, wurden aus fertigem Tuch Kleider
geschneidert, Holz oder Eisen nach dem Willen des Schreiners
oder Schmieds weiter verarbeitet. Dazu war weniger Ehrfurcht
als Eigenwille erforderlich. Heute wird in Fabriken unabhängig
vom Wetter, von Tages- und Jahreszeit unter dem Einsatz großer
Intelligenz produziert, und zwar Dinge, die die Menschen eigentlich
gar nicht brauchen - man muß sie ihnen erst durch Werbung
aufdrängen, damit die Produktionsmaschinerie nicht ins Stocken
gerät. Das hat zur Vorherrschaft der Wirtschaft über
Ehrfurcht und Moral geführt.
Heute ist deshalb auf der
Welt „die größte Not, und kein Mensch weiß
sich da zu helfen“. Wir stehen vor den Folgen unseres egoistischen, unbeherrschten Handelns. Die machen uns unfrei. Um wieder frei zu werden, um "wieder in die Stadt zukommen", müssen wir uns durchessen, das heißt auslöffeln und verdauen, was wir uns eingebrockt haben. Und verdauen ist sprachverwandt zu tauen, das heißt, etwas auflösen, flüssig machen. Der verhärtete Krampf unserer heutigen Wirtschaft muß wieder lebendig gemacht werden. Das
Märchen fordert uns auf, die Kräfte in uns zu
entwickeln, die aus der Not heraushelfen. Es sind
die Kindheitskräfte, die sozialen Kräfte, mit denen
jedes Kind auf die Welt kommt: die Liebe, die Wahrhaftigkeit,
und daraus das Vertrauen in den Mitmenschen, was überhaupt
erst ein Zusammenleben ermöglicht, aber auch die Fähigkeit
des Maßhaltens des erwachsenen Menschen: "Töpfchen
Steh!", des Sich-Beherrschens.
Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart! (Frank Jentzsch 19.12.2010, 11.2.2020)
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