Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
  Über mich
 
  Termine
  Hörproben
  Repertoire
 
  Erzählstunden
  Sprachförderung
  Märchen-Seminare
  Märchen-Vorträge
  Märchen-Deutung
 
  Kosten
 
  Für Veranstalter:
  Kindergarten
  Schule
  Studenten
  Erwachsene
  Frauen
  Senioren
  Hospiz
  Kirche
  Klinik
  Psychiatrie
  Museum
   
 
   
  Kontakt
   

 

 
 

Der süße Brei (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 103)

1) Text:

Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald und begegnete ihm da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: »Töpfchen, koche«, so kochte es guten süßen Hirsenbrei, und wenn es sagte: »Töpfchen, steh«, so hörte es wieder auf zu kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten.
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: »Töpfchen, koche«, da kocht es, und sie ißt sich satt; nun will sie, daß das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll, und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt‘s die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen.
Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: »Töpfchen, steh«, da steht es und hört auf zu kochen; und wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen.

2) Deutung

Mutter und Kind sind Sinnbilder für alte und junge Kräfte im Menschen. Wenn die Gewohnheiten erstarrt sind, Überlieferungen nicht mehr befriedigen und sättigen, tritt Sehnsucht nach den Quellen des Lebens ein. Dazu müssen sich die jungen Kräfte im Menschen auf den Weg machen, Fortschritte machen.

Die Alte im Walde steht für Lebenskräfte im Unbewußten, zu denen wir wieder bewußt Verbindung aufnehmen können, wenn wir uns für sie öffnen. Sinnbild für dieses Öffnen ist das Töpfchen. Stellen wir uns das Töpfchen so vor, wie es früher auf offenem Feuer kochte, nämlich mit einem runden Boden (der die Hitzespannungen gleichmäßig verteilte), und einem sich nach oben öffnendem Rand. Die Kugelform des Bauches steht für das Individuum, das Ich, der sich öffnende Rand für das Sich-Öffnen nach oben, die Hinwendung zu himmlischen Kräften.

Hirse, Korngetreide war der Inbegriff menschlicher Ernährung. Nur das Kind im Menschen, das zu den Quellen vorgedrungen ist, hat Vollmacht über das Kochen. Die "Mutter" beherrscht es nicht: "Aber sie wußte das Wort nicht..." Sie ist haltlos ihrer Gier ausgeliefert, kann nicht maßhalten "....und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen." Vielleicht ist der Vergleich mit unserem heutigen Zwang zum Wirtschaftswachstum erlaubt? Warum müssen Autohersteller aller drei Monate ein neues Modell mit einer neuen Karosserie herausbringen? Neuer ... größer ... schneller ...? Das ist ein Überfluß, der nicht beherrscht wird.

Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: "Töpfchen steh", da steht es und hört auf zu kochen; und wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen." Man muß sich auch heute noch anstrengen, um in die Stadt zu kommen, d.h. um selbständig zu werden. Im Mittelalter, als in weiser Voraussicht der Menschheitsentwicklung Märchen unters Volk gebracht wurden, war man auf dem Lande von der Natur geführt, war man ein Kind der Natur. Die Jahres- und Tageszeiten, Wind, Wetter, Regen und Schnee, Sonne, Mond und Sterne hatten ihren Einfluß auf die Bearbeitung des Bodens, auf Säen, Pflegen und Ernten. Der Bauer war nicht frei, erkannte diese Abhängigkeit aber an. Stadtluft machte frei, weil unabhängig von den Naturrythmen. In der Stadt konnte man sich als idividueller Mensch freier fühlen. Dort wurde gehandelt, wurden angelieferte Nahrungsmittel in Gasthäusern verkauft, wurden aus fertigem Tuch Kleider geschneidert, Holz oder Eisen nach dem Willen des Schreiners oder Schmieds weiter verarbeitet. Dazu war weniger Ehrfurcht als Eigenwille erforderlich. Heute wird in Fabriken unabhängig vom Wetter, von Tages- und Jahreszeit unter dem Einsatz großer Intelligenz produziert, und zwar Dinge, die die Menschen eigentlich gar nicht brauchen - man muß sie ihnen erst durch Werbung aufdrängen, damit die Produktionsmaschinerie nicht ins Stocken gerät. Das hat zur Vorherrschaft der Wirtschaft über Ehrfurcht und Moral geführt.

Heute ist deshalb auf der Welt „die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen“. Wir stehen vor den Folgen unseres egoistischen, unbeherrschten Handelns. Die machen uns unfrei. Um wieder frei zu werden, um "wieder in die Stadt zukommen", müssen wir uns durchessen, das heißt auslöffeln und verdauen, was wir uns eingebrockt haben. Und verdauen ist sprachverwandt zu tauen, das heißt, etwas auflösen, flüssig machen. Der verhärtete Krampf unserer heutigen Wirtschaft muß wieder lebendig gemacht werden. Das Märchen fordert uns auf, die Kräfte in uns zu entwickeln, die aus der Not heraushelfen. Es sind die Kindheitskräfte, die sozialen Kräfte, mit denen jedes Kind auf die Welt kommt: die Liebe, die Wahrhaftigkeit, und daraus das Vertrauen in den Mitmenschen, was überhaupt erst ein Zusammenleben ermöglicht, aber auch die Fähigkeit des Maßhaltens des erwachsenen Menschen: "Töpfchen Steh!", des Sich-Beherrschens.


Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart!
(Frank Jentzsch 19.12.2010, 11.2.2020)

Zurück zur Übersicht Märchendeutung