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Der
selbstverdiente Rubel (nach "Der Schlangenknabe" - Georgische Volksmärchen,
aus dem Russischen von Vera Nowak, Verlag Progress Moskau
1977 - Erzählfassung Frank Jentzsch)
1) Text
Ein
Mann hatte einen schrecklich faulen Sohn, der nicht mithelfen
wollte in Haus und Hof, und sich keine fünf Kopeken selbst
verdienen konnte. Der Vater fütterte ihn durch, so lange
er es vermochte, doch wurde er selber nach und nach alt und
gebrechlich. Auf dem Krankenlager rief er seine Frau zu sich
und sprach: "All meine Habe will ich einem Fremden vermachen.
Meinem Sohn hinterlasse ich nichts, denn er ist ein Faulpelz
und Taugenichts, der sich nicht einmal einen Rubel selbst
verdienen kann!"
Der Mutter tat der Sohn leid, und sie nahm ihn in Schutz: "Wieso sollte er sich keinen Rubel selber verdienen können?
Der Mann sprach: "Nun gut, wir wollen es darauf ankommen
lassen: Soll er gehen und sich einen Rubel verdienen. Wenn
er das kann, soll er mein Erbe sein, wenn nicht, dann nicht."
Die Mutter war erleichtert, ging zu ihrem Sohn, steckte ihm
einen Rubel zu und schärfte ihm ein: "Geh aus dem
Haus bis zum Abend. Am Abend bringe deinem Vater diesen Rubel
und sage, du hättest ihn dir verdient."
Der Sohn tat, wie ihn die Mutter geheißen hatte, brachte
seinem Vater am Abend den Rubel und sagte: "Wegen diesem
Rubel bin ich todmüde, so schwer habe ich dafür
gearbeitet." Der Vater nahm den Rubel, beroch ihn und
warf ihn in`s Herdfeuer: "Den hast du nicht verdient!" sagte er. Der Sohn lachte und ging seiner Wege.
Was sollte die Mutter machen? Sie gab ihm wieder einen Rubel
und sagte: "Du brauchst den ganzen Tag über nichts
zu tun. Aber gegen Abend laufe zwei Werst, damit du in Schweiß
gerätst - dann tritt vor deinen Vater und sage: "Mit
Schweiß und Mühen habe ich mir diesen Rubel verdient!"
So
machte es der Sohn. Am Abend trat er vor den Vater und
sprach: "Mit Schweiß und Mühen habe ich
mir diesen Rubel verdient!" Der Vater nahm den Rubel,
roch daran und warf ihn in`s Feuer."Du kannst mich
nicht betrügen, mein Sohn", sagte er, "auch
diesen Rubel hast du nicht verdient!" Der Sohn zuckte
mit den Achseln und ging hinaus. Die Mutter aber merkte,
daß es schlimm ausgehen konnte, und riet ihrem Sohn:
"Siehst du, er läßt sich nicht hinters
Licht führen. Es wird dir nichts anderes übrig
bleiben, als wirklich zu arbeiten, und wenn du dir auch
nur drei Fünfer am Tag verdienst, so hast du doch
in einer Woche einen Rubel zusammen. Den bringe deinem
Vater, und er wird dir glauben. Der Sohn fügte sich
und ging tatsächlich eine ganze Woche lang arbeiten.
Bei dem einen Nachbarn bekam er fürs Holzhacken fünfzehn
Kopeken, beim anderen zwanzig fürs Viehaustreiben,
bekam so am Ende der Woche den Rubel zusammen und brachte
ihn seinem Vater. |
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5-Kopeken-Stück von 1763 |
Der
Alte beroch das Geld und warf es in die Flammen: "Nein,
mein Sohn, auch das hast du nicht verdient!" Da hielt
es der Sohn nicht länger aus, stürzte zum Herd,
wühlte mit bloßen Händen in der Glut und holte
das Geld aus dem Feuer. "Bist Du nicht bei Trost, Vater?
Eine ganze Woche habe ich mich abgeplagt und den Rücken
krumm gemacht für dieses Geld, und Du wirfst es ins Feuer!"
Da sprach der Vater: "Jetzt glaube ich dir, daß
du den Rubel selbst verdient hast, weil dir leid um ihn ist.
Nun weißt du, wie schwer es ist, Geld zu verdienen,
und du wirst besonnen mit deinem Erbe umgehen. Wenn du arbeitest,
wirst du es bewahren und mehren, wenn nicht, wird es dir unter
den Händen zerrinnen.
Dann vermachte er seinem Sohn all sein Vermögen und ging
dorthin, wo wir alle einmal hingehen werden.
2)
Deutung
Auf
den ersten Blick scheint diese Geschichte eine der altbekannten
Moralpredigten mit dem erhobenen Zeigefinger zu sein: "Immer fleißig sein, dann mag dich dein Papi!"
Auch die typisch männliche Härte und das weiche
Herz der Mutter kennen wir sicherlich alle. Aber Märchen
haben außer möglichen vordergründigen Beziehungen
zum Alltagsleben eine tiefere sinnbildliche Bedeutung. (siehe
--> Allgemeines
zur Bildsprache der Märchen)
Vater
und Mutter sorgen mit ihrer Arbeit für den Unterhalt
der Familie, der Sohn ist untätig und läßt
sich unterhalten. Könnte das ein Bild dafür
sein, wie wir Menschen uns verhalten? Ich weiß,
da kommen gleich Proteste: wir sind ja alle tätig, schaffen
und bemühen uns. Aber es gibt verschiedene Arten
des Tätigseins.
a)
Die
eine reagiert auf die Anforderungen, die das Leben
von außen an uns stellt, Mehr oder weniger widerstrebend
tue ich, was mir auferlegt wird. Das innere Widerstreben aber
nimmt mir Kräfte und macht mich endlich krank.
b)
Die
andere fügt aus eigenem Antrieb und freiem Willen etwas
von innen hinzu, was den Lebenszusammenhängen
auf der Erde und dem Zusammenleben der Menschen dient. Das
begeistert. Normalerweise bemühen wir uns ja nicht mehr
als nötig. Erst "wenn`s brennt", werden wir
richtig aktiv. Ohne äußeren Druck lebendig werden,
das ist aber mehr, doch es will geübt sein. Nicht nur
Muskeln bilden sich durch regelmäßige körperliche
Arbeit, auch seelische Eigenschaften wie Geduld, Freundlichkeit,
Mitgefühl mit anderen Wesen und Opferbereitschaft, sowie
geistige Fähigkeiten wie Konzentration und Geistesgegenwart
kann ich erüben. Im Märchenbild heißt das,
daß der Held, die Heldin das Elternhaus, das Gewohnte
verlassen, sich auf den Weg machen und dabei Fortschritte
machen. Dabei ist merkwürdig, daß der Märchenheld
keine Landkarte oder Wegbeschreibung dabei hat. Offenbar ist
nur wichtig, daß er beharrlich und geduldig Fortschritte
macht. Und wenn er genügend Fortschritte gemacht hat,
dann findet er sich unvermutet am Ziel.
c) Das
Erlebnis, daß ich durch eigene Initiative etwas Gutes
schaffen kann, gibt mir die Kraft, Pflichten gerne
zu erfüllen, gegen die ich mich früher gesträubt
habe. Das Schicksal wird mir immer wieder Pflichten
auferlegen, deren Sinn und Nutzen ich noch nicht verstehe,
denn nur durch neue Aufgaben lerne ich etwas dazu. Wenn wir
nur das tun wollten, was wir schon beurteilen und überschauen
können, würden wir nichts dazulernen.
So aber kann ich mir im Vertrauen auf die weisheitsvolle Schicksalsführung
beispielsweise vornehmen, eine "unangenehme" Arbeit
besonders sorgfältig auszuführen, und mich über
die sorgfältige Ausführung zu freuen.
d)
Auch "wir Fleißigen" werden von Himmelskräften
unterhalten. In jeder Nacht wird an uns repariert,
was wir in unserem Organismus durch falsche Gedanken, unfreundliche
Gefühle und schädliche Handlungen verdorben haben.
Dazu muß uns sogar noch das Bewußtsein genommen
werden, damit wir nicht dazwischenpfuschen. Morgens erwachen
wir dann erholt, gestärkt und vielleicht mit einer neuen
Erkenntnis, versöhnlicher gestimmt, und mit einem neuen
Impuls zu handeln. Auch da haben uns "Vater und Mutter" unterhalten.
Der Mensch ist nicht ein Tier, das gehen, sprechen und denken
kann, in allen seinen Handlungen jedoch von außen gesteuert
wird, sondern ein Wesen, das aus Einsicht frei handeln und
schöpferisch werden kann. In dem Maße, wie er das
schafft, tritt er das Erbe der Kräfte an, von denen er
bis jetzt abhängig war, und gewinnt ihre Vollmacht.
(Frank
Jentzsch, 24.2.2008, 19.8.2008)
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