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Der
goldene Schlüssel
(Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen,
Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 200)
1)
Text: Zur
Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte
ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen.
Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte
er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern
erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen.
Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden
aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel.
Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müßte
auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand
ein eisernes Kästchen. »Wenn der Schlüssel
nur paßt!« dachte er. »Es sind gewiß
kostbare Sachen in dem Kästchen Er suchte, aber es war
kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber
so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte,
und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte
er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends
aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden
wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen
lagen.
2)
Deutung
"Zur Winterzeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte
ein armer Junge hinaus und Holz auf einem Schlitten holen."
Ein armer Junge
läßt mich an folgendes denken: "Selig sind,
die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer."
Er ist demütig, weil er seine Armut gegenüber dem
Himmel kennt. Und es ist kein alter Mann, der in Gewohnheiten
lebt, sondern eine junge Kraft, die zwar ihre Aufgaben bescheiden
erfüllt (nämlich trockenes, totes Holz zu sammeln),
dabei aber weiterdenkt und sich entwickelt.
Die heutige Naturwissenschaft sammelt
fortwährend "abgestorbendes Holz" - nämlich
das, was sich messen, zählen und wägen läßt
- ohne nach den Prozessen und Lebenskräften zu fragen,
durch die es entstanden ist. Danach zu fragen, würde
als sentimental belächelt. Heute ist deshalb "Cool-sein“
in, natürlich auch, weil man mit vielen Menschen auf
engem Raum lebt und nicht allen seine Gefühle zeigen
kann, und weil Coolness ein Selbstschutz ist vor der Flut
der Informationen und Bilder, welche die Medien anbieten.
Man verbietet sich mitzufühlen, weil man sonst darin
untergehen würde. In dieser "Coolness" fehlt
dem Menschen aber Wärme. Und dann bricht sich die gestaute
Empfindung in Richtung Aggression oder Sexualität einen
Weg.
Wir leben im Informationszeitalter.
Für jeden zivilisierten Menschen stehen heute alle Informationen
abrufbereit zur Verfügung. Über die Medien wird
er von Infos überschwemmt, und nur ein Bruchteil davon
kann ihn überhaupt zum Handeln motivieren: das andere
bleibt im Gedanken, ist trockenes Holz. Jede Information,
die nicht zur Tat führt, lähmt den Menschen.
Nur das Feuer der Begeisterung und die Herzenswärme des
Mitgefühls kann aktivieren! Die seelische Wärme
ist der Schlüssel zur Welt.
"Da
scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte
…. fand er einen kleinen goldenen Schlüssel." Der Junge schiebt den kalten Schnee beiseite. Die erstarrende
Kälte soll nicht mehr die Mitte seines Bewußtseins
einnehmen, sie wird eine Nebensache. Das soll ihm erst einmal
einer nachmachen! Dazu muß ich nämlich Herr über
meine Gedanken sein. Normalerweise bestimmen äußere
Reize, Erinnerungen, Wünsche, Begierden, was mir täglich
so durch den Kopf geht. Um den "Schnee" kalt berechnender
Gedanken, alle Kritik, alle Antipathie und Sympathie beiseite
zu schieben, und Herzenswärme in die Mitte der Aufmerksamkeit
zu rücken, dazu muß ich meine Gedanken und Gefühle
selber beherrschen. Das will geübt sein.
Meine Kräfte fließen dorthin,
wo ich mit meiner Aufmerksamkeit bin. Wenn ich mich mit bösen
Dingen beschäftige, fließen den Geistern, die sie
verursacht haben, meine Kräfte zu. Wenn ich mich mit
guten Dingen befasse, dann stärke ich diese. Das Märchen
sagt: In der Mitte soll von jetzt ab die Wärme und das
Licht des Herzensfeuers stehen.
"...
und den Erdboden aufräumte" Nicht
meine egoistische Begierde soll sich durch die Welt drängen
und sie ausbeuten, sondern jetzt wird gefragt: Was will die
Erde als lebendiger Organismus, was wollen die anderen Wesen?
Am
Schluß heißt es: "Und nun müssen
wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel
aufgemacht hat, …" Der geschlossene
Deckel, mit dem wir Menschen herumlaufen, ist – im Bilde
gesprochen - die „eigene Kappe, auf die wir etwas nehmen“ können ,
die nach oben geschlossene Schädeldecke. Durch sie können
wir uns als Individuum unabhängig von Himmel und Erde
fühlen. (Vergl. das Evangelien-Bild vom Verlorenen Sohn.)
Das ist die Grundlage unserer Freiheit. Wir mußten blind
und taub für den Zusammenhang mit der uns umgebenden
Welt werden, damit wir uns frei fühlen können. Religion
sucht die Wiederverbindung, das Öffnen des "Deckels".
Das
geht langsam vor sich, je nachdem, wie schnell der Mensch
seine Willenskraft, ausbildet, das "eiserne
Kästchen" erschließt. Der Kasten
ist nicht rund, sondern rechteckig mit Kanten, ist etwas durch
und durch Irdisches. Mit eisernen Werkzeugen bearbeitet der
Mensch die Erde. Eisen kristallisiert in Würfelform (Pyrit).
Wenn Eisen im Blut fehlt, ist der Mensch willensschwach. Das
Öffnen des Deckels will geübt sein. Es ist nicht
mit einem einmaligen Entschluß getan. Das Märchen
regt uns dazu an, unseren Willen entwickeln.
Auch in diesem Grimmschen Märchen können wir jedes Wort ernstnehmen. Als der arme Junge den Schlüssel findet, denkt er: "Es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen." Wenn er den Deckel einmal aufgemacht haben wird, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen. Deutet sich in dem Schritt von kostbar zu wunderbar vielleicht eine Bewußtseinsentwicklung bei dem Jungen an?
Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart! (Frank Jentzsch 14.7.2009 / 16.5.2011 / 19.4.2016)
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