Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Der goldene Schlüssel (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 200)

1) Text:

Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. »Wenn der Schlüssel nur paßt!« dachte er. »Es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.

2) Deutung


"Zur Winterzeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinaus und Holz auf einem Schlitten holen." Ein armer Junge läßt mich an folgendes denken: "Selig sind, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer." Er ist demütig, weil er seine Armut gegenüber dem Himmel kennt. Und es ist kein alter Mann, der in Gewohnheiten lebt, sondern eine junge Kraft, die zwar ihre Aufgaben bescheiden erfüllt (nämlich trockenes, totes Holz zu sammeln), dabei aber weiterdenkt und sich entwickelt.

Die heutige Naturwissenschaft sammelt fortwährend "abgestorbendes Holz" - nämlich das, was sich messen, zählen und wägen läßt - ohne nach den Prozessen und Lebenskräften zu fragen, durch die es entstanden ist. Danach zu fragen, würde als sentimental belächelt. Heute ist deshalb "Cool-sein“ in, natürlich auch, weil man mit vielen Menschen auf engem Raum lebt und nicht allen seine Gefühle zeigen kann, und weil Coolness ein Selbstschutz ist vor der Flut der Informationen und Bilder, welche die Medien anbieten. Man verbietet sich mitzufühlen, weil man sonst darin untergehen würde. In dieser "Coolness" fehlt dem Menschen aber Wärme. Und dann bricht sich die gestaute Empfindung in Richtung Aggression oder Sexualität einen Weg.

Wir leben im Informationszeitalter. Für jeden zivilisierten Menschen stehen heute alle Informationen abrufbereit zur Verfügung. Über die Medien wird er von Infos überschwemmt, und nur ein Bruchteil davon kann ihn überhaupt zum Handeln motivieren: das andere bleibt im Gedanken, ist trockenes Holz. Jede Information, die nicht zur Tat führt, lähmt den Menschen. Nur das Feuer der Begeisterung und die Herzenswärme des Mitgefühls kann aktivieren! Die seelische Wärme ist der Schlüssel zur Welt.

"Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte …. fand er einen kleinen goldenen Schlüssel." Der Junge schiebt den kalten Schnee beiseite. Die erstarrende Kälte soll nicht mehr die Mitte seines Bewußtseins einnehmen, sie wird eine Nebensache. Das soll ihm erst einmal einer nachmachen! Dazu muß ich nämlich Herr über meine Gedanken sein. Normalerweise bestimmen äußere Reize, Erinnerungen, Wünsche, Begierden, was mir täglich so durch den Kopf geht. Um den "Schnee" kalt berechnender Gedanken, alle Kritik, alle Antipathie und Sympathie beiseite zu schieben, und Herzenswärme in die Mitte der Aufmerksamkeit zu rücken, dazu muß ich meine Gedanken und Gefühle selber beherrschen. Das will geübt sein.

Meine Kräfte fließen dorthin, wo ich mit meiner Aufmerksamkeit bin. Wenn ich mich mit bösen Dingen beschäftige, fließen den Geistern, die sie verursacht haben, meine Kräfte zu. Wenn ich mich mit guten Dingen befasse, dann stärke ich diese. Das Märchen sagt: In der Mitte soll von jetzt ab die Wärme und das Licht des Herzensfeuers stehen.

"... und den Erdboden aufräumte" Nicht meine egoistische Begierde soll sich durch die Welt drängen und sie ausbeuten, sondern jetzt wird gefragt: Was will die Erde als lebendiger Organismus, was wollen die anderen Wesen?

Am Schluß heißt es: "Und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, …" Der geschlossene Deckel, mit dem wir Menschen herumlaufen, ist – im Bilde gesprochen - die „eigene Kappe, auf die wir etwas nehmen“ können , die nach oben geschlossene Schädeldecke. Durch sie können wir uns als Individuum unabhängig von Himmel und Erde fühlen. (Vergl. das Evangelien-Bild vom Verlorenen Sohn.) Das ist die Grundlage unserer Freiheit. Wir mußten blind und taub für den Zusammenhang mit der uns umgebenden Welt werden, damit wir uns frei fühlen können. Religion sucht die Wiederverbindung, das Öffnen des "Deckels".

Das geht langsam vor sich, je nachdem, wie schnell der Mensch seine Willenskraft, ausbildet, das "eiserne Kästchen" erschließt. Der Kasten ist nicht rund, sondern rechteckig mit Kanten, ist etwas durch und durch Irdisches. Mit eisernen Werkzeugen bearbeitet der Mensch die Erde. Eisen kristallisiert in Würfelform (Pyrit). Wenn Eisen im Blut fehlt, ist der Mensch willensschwach. Das Öffnen des Deckels will geübt sein. Es ist nicht mit einem einmaligen Entschluß getan. Das Märchen regt uns dazu an, unseren Willen entwickeln.

Auch in diesem Grimmschen Märchen können wir jedes Wort ernstnehmen. Als der arme Junge den Schlüssel findet, denkt er: "Es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen." Wenn er den Deckel einmal aufgemacht haben wird, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen. Deutet sich in dem Schritt von kostbar zu wunderbar vielleicht eine Bewußtseinsentwicklung bei dem Jungen an?


Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart!
(Frank Jentzsch 14.7.2009 / 16.5.2011 / 19.4.2016)

 

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