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Vom
klugen Schneiderlein (Brüder
Grimm, Kinder- u. Hausmärchen Nr. 114, --> Originaltext von 1857)
Deutung:
Die
echten Märchen schildern menschliche Entwicklungsmöglichkeiten
in Sinnbildern. Die Personen und Tiere des Märchens
spielen in der menschlichen Seele. Unser Märchen stellt
schon zu Beginn das Ziel aller Entwicklung, die Vereinigung
mit der Königstochter in Aussicht. Bis dahin muß
die menschliche Persönlichkeit aber noch einen Weg
der Läuterung durchschreiten. Die Königstochter
prüft hier selbst die Fortschritte auf diesem Weg.
Schneider
stehen für das moderne Denken. Sie zerschneiden
(analysieren) Gewebtes und fügen es nach eigenem Gutdünken
neu zusammen. Gewebe: ein Bild für das Ineinanderfügen
von Schicksal und eignem Handeln. Dabei darf der Lebensfaden
nicht reißen! In Guatemala würde noch heute keine
Indiofrau ein Gewebe zerschneiden. Oder denken wir an die
Lebenszusammenhänge auf unserem schönen blauen
Planeten, aus dem kurzsichtige Wirtschaftsegoismen sich
rücksichtslos Stücke herausschneiden wollen!
Der älteste Schneider ist ganz materialistisch gestimmt.
Für ihn kommt nur schwarz weißes Alltagstuch
in Frage. Etwas näher am Himmel ist der zweite schon,
wenn er rät: „braun und rot, wie meines Herrn
Vaters Bratenrock“. Bestenfalls am Sonntag gab es
früher Braten. Und den Sonntagsrock zog man am Sonntag
an, wenn man in die Kirche ging.
Der Jüngste, das ist die Kraft in uns, die
noch recht wenig in uns entwickelt ist. Es ist der Wille,
dasjenige gern zu tun, was der Menschheit und der Weltentwicklung
nützt. Diese Kraft erschließt höhere
Wahrnehmungen. Der Jüngste schaut das Gold und Silber
der Aura der Königstochter. Er ist dem Himmel am nächsten.
Nur
das Sehen, das Wissen, genügt aber nicht.
Es muß das Gefühlsleben verwandeln, muß
sich zur Begeisterung verdichten, und endlich zur Tat. Das
soll der Jüngste beim Bären erproben, bei den
niederen Triebkräften in uns.
Zunächst zeigt er dem Bären beim Nüsseknacken
die Überlegenheit des Denkens über die rohen Körperkräfte
(Der Bär biß aus allen „Leibeskräften“
hinein aber ....!). Merkwürdigerweise wird nicht von
Nüssen gesprochen, denn das wären die damals heimischen
Haselnüsse gewesen, sondern von welschen Nüssen.
Welsch kennen wir von „Kauderwelsch“, einer
fremden unverständlichen Sprache. Die welschen Nüsse,
die Walnüsse, kamen nämlich aus dem fernen Kaukasus.
Ihre Kerne ähneln dem menschlichen Gehirn und sind
auch Gehirnnahrung. Mit diesem Sinnbild wird also darauf hingewiesen, daß das jüngste Schneiderlein nicht nur die gewöhnlichen Fragen löst, sondern auch die ungewohnten, neuen „Nüsse knacken“ kann. Es kann besonders gut denken.
Danach gelingt es dem Schneiderlein, die Triebkräfte
des Bären mit „Musik“ zu harmonisieren.
Dann aber schafft er sich Ruhe vor dem Bären, indem
er ihn im Schraubstock einzwängt und die Nacht verschläft.
Der
Schraubstock scheint mir ein Bild zu sein für eine
asketisch gewaltsame Anstrengung, seine Seele zu läutern.
Schon den Aschenputtel-Stiefschwestern ist das mit Zehe-
und Ferse-Abschneiden nicht gelungen.
Die Gegenkräfte – die neidischen Brüder
– treten wieder auf den Plan und schrauben den Bären
los, wenn der Jüngste schon überheblich meint,
er hätte alles im Griff. Die niederen Triebe
waren nur verdrängt, wie der Psychologe sagen
würde.
In
der irdischen Wirklichkeit würden jetzt viele Jahre
des Übens folgen, vielleicht sogar einige Erdenleben,
bis das errungen ist, was das Schneiderlein nun vorführt.
Im Märchen klingt es so, als lägen nur ein paar
Augenblicke dazwischen: Das Schneiderlein stellt sich auf
den Kopf und streckt die Füße zum Fenster hinaus.
Es zeigt dem Bären, daß es nicht im Irdischen
seinen Halt hat, sondern im Himmel fußt –
dort hat es sein Fundament.
Es steckt aber noch ein anderes Sinnbild darin: mit den Füßen machen wir uns nämlich auf den Weg, machen Fortschritte in unserer Entwicklung. Dazu muß man die eigene Bequemlichkeit und die eigenen Begierden im Zaum halten. (Wenn man diesen beiden nachgibt, werden immer erarbeitete Kräfte verbraucht.) Hier zeigt das Schneiderlein, daß er sich bis in den Willen hinein geläutert hat. Damit hat der Bär seinen
Meister gefunden.
Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart! (Stand 6.1.2010, 19.6.2011, 20.5.2014)
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