Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Die sogenannten Grausamkeiten im Märchen


Wir erschrecken, wenn in den bekannten Märchen der Brüder Grimm 1) der Wolf Rotkäppchen verschlingt, wenn 2) einem schlafendem Wolf mit der Schere der Bauch aufgeschnitten wird, 3) Zehen und Fersen abgehauen werden, 4) Tauben den Stiefschwestern die Augen auspicken, 5) Hände abgehackt werden, wenn 6) eine der Stiefschwestern sich erhängt, die andere sich im Brunnen ersäuft, wenn 7) die böse Stiefmutter am Ende in einer Nageltonne den Berg hinab in den Fluß gerollt wird usw.

Wir erschrecken nicht, wenn die Freundin sagt: "Mein Bruder hat den Kopf verloren, weil er sein Herz verschenkt hat". Da erwarten wir nicht, daß er uns beim nächstenmal blutüberströmt ohne Kopf und mit einem Loch in der Brust entgegenkommt. Unsere Alltagssprache ist ja voller Bildworte, die wir wie selbstverständlich als Sinnbilder für seelische Verhältnisse und nicht materiell verstehen: "Da geht mir der Hut hoch, ich habe ein Auge auf sie geworfen, ich habe dir mein Ohr geliehen, den Mund zu voll genommen, etwas auf die leichte Schulter genommen, er lebt auf zu großem Fuß usw. Selbst in den Nachrichten heute wird von "Partnern auf Augenhöhe", von "engmaschiger Überwachung" gesprochen, oder davon, daß "nach der Wahl bei der SPD Köpfe rollen", daß "ein Präsident ausgebootet wird", daß "Schulterschluß erforderlich" wäre, daß "eine andere Gangart angeschlagen werden muß" (früher zwang der Kutscher die Gäule zu einer anderen Gangart!), oder daß "die Banken eine Verordnung nicht schlucken wollen".

Zu 1) Der Wolf verschlingt Rotkäppchen: Die ursprüngliche Hellsichtigkeit geht verloren, wenn wir uns hier auf der Erde in die Sinneswahrnehmungen begeben --> Rotkäppchen.

Zu 2) Mit der Schere den Bauch aufschneiden: Es handelt sich nicht um den schützenswerten Wolf im Zoo, sondern um eine Macht, die uns in Dunkelheit hüllen will in Bezug auf Ursprung und Ziel der menschlichen Entwicklung. --> Rotkäppchen.

Zu 3) Zehen und Fersen werden abgehauen: Bei der einen ist die Zehe zu groß, bei der anderen die Ferse. Die eine kommt nicht nicht auf den Boden der Tatsachen herunter, sondern tippelt wie ein kleines Kind auf den Zehen, ist eine Phantastin, Schwärmerin. Die andere stampft mit der Ferse auf, wenn sie etwas durchsetzen will, sie kennt nur Messen, Zählen, Wägen, aber keinen Himmel. Das Märchen zeigt, was geschieht, wenn wir unerwünschte Einseitigkeiten verdrängen wollen: die "Psychoanalytiker" auf dem Haselbäumchen durchschauen es. --> Aschenputtel.

4) Tauben picken Augen aus: Aschenputtel bringt die Extreme zum Ausgleich. Sie ist auf der Erde zu Hause und im Himmel. Die Extreme aber sind blind für die Mitte, sonst wären sie keine Extreme - das betonen die Tauben am Schluß noch einmal, indem sie den Stiefschwestern die Augen auspicken.

Zu 5) In dem Märchen "Das Mädchen ohne Hände" (Brüder Grimm KHM 31) wird der jungen Kraft im Menschen zunächst die Handlungsfähigkeit genommen.

Zu 6) Im Märchen "Der Bärenhäuter" (Brüder Grimm KHM 101) erschrecken die beiden ältesten Schwestern über den schmutzigen wilden Kerl. Die eine schreit auf und läuft fort (auf Schwäbisch: "se goht obe naus"), die andere betrachtet und taxiert ihn cool kaufmännisch, bleibt erdverhaftet. Die Jüngste erbarmt sich des Vaters, betet für den Bärenhäuter und kriegt ihn am Ende gereinigt und schön zum Mann. Darüber geraten die Schwestern in Zorn. Da weist das Märchen der einen ihren Platz oben an, sie verliert den Boden unter den Füßen, der anderen wird Dunkelheit und Tiefe zuteil, wo sie schon vorher hingehörte.

Zu 7) Die böse Stiefmutter ist keine Schwiegermutter! (Das wäre eine Freud`sche Fehlleistung) Sie ist im Gegensatz zur wahren, lebenspendenen Mutter die kaltherzige Mutter. Und die Stiefkinder hatten eben nicht die richtige Mutter. Die ursprüngliche Bedeutung von "stief" ist nämlich "verwaist". Und in früheren Jahrhunderten waren im Gegensatz zu heute die Blutsbande ausschlaggebend: Kinder, die nicht "eigen Fleisch und Blut" waren, waren der, sie versorgenden, Frau von vornherein fremd und zuwider. So hockt die Stiefmutter der alten Märchen in der Tonne ihres Egoismus und piesackt die anderen mit ihren Spitzen. ("Die drei Männlein im Walde", Brüder Grimm KHM 13, siehe auch --> Meister Pfriem). Am Ende kommt das auf sie selbst zu, was sie anderen angetan hat: sie wird in der Nageltonne den Berg hinabgerollt. Tröstlich ist dabei, daß sie im Fluß des Schicksals landet, der zum Ausgleich führt.

(Frank Jentzsch 16.2.2008, 19.8.2008, 29.7.2010)

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