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Die
sogenannten Grausamkeiten im Märchen
Wir
erschrecken, wenn in den bekannten Märchen
der Brüder Grimm 1) der Wolf Rotkäppchen
verschlingt, wenn 2) einem schlafendem
Wolf mit der Schere der Bauch aufgeschnitten wird, 3)
Zehen und Fersen abgehauen werden, 4) Tauben
den Stiefschwestern die Augen auspicken, 5) Hände
abgehackt werden, wenn 6) eine der Stiefschwestern
sich erhängt, die andere sich im Brunnen ersäuft,
wenn 7) die böse Stiefmutter am Ende
in einer Nageltonne den Berg hinab in den Fluß gerollt
wird usw.
Wir
erschrecken nicht, wenn die Freundin sagt: "Mein Bruder hat den Kopf verloren, weil er sein Herz
verschenkt hat". Da erwarten wir nicht, daß er
uns beim nächstenmal blutüberströmt ohne
Kopf und mit einem Loch in der Brust entgegenkommt. Unsere
Alltagssprache ist ja voller Bildworte, die wir wie selbstverständlich
als Sinnbilder für seelische Verhältnisse und
nicht materiell verstehen: "Da geht mir der Hut hoch,
ich habe ein Auge auf sie geworfen, ich habe dir mein Ohr
geliehen, den Mund zu voll genommen, etwas auf die leichte
Schulter genommen, er lebt auf zu großem Fuß usw. Selbst
in den Nachrichten heute wird von "Partnern auf Augenhöhe",
von "engmaschiger Überwachung" gesprochen,
oder davon, daß "nach der Wahl bei der SPD Köpfe
rollen", daß "ein Präsident ausgebootet
wird", daß "Schulterschluß erforderlich"
wäre, daß "eine andere Gangart angeschlagen
werden muß" (früher zwang der Kutscher die
Gäule zu einer anderen Gangart!), oder daß "die
Banken eine Verordnung nicht schlucken wollen".
Zu
1) Der Wolf verschlingt Rotkäppchen: Die ursprüngliche Hellsichtigkeit geht verloren, wenn
wir uns hier auf der Erde in die Sinneswahrnehmungen begeben
--> Rotkäppchen.
Zu
2) Mit
der Schere den Bauch aufschneiden: Es handelt sich
nicht um den schützenswerten Wolf im Zoo, sondern um
eine Macht, die uns in Dunkelheit hüllen will in Bezug
auf Ursprung und Ziel der menschlichen Entwicklung. -->
Rotkäppchen.
Zu
3) Zehen
und Fersen werden abgehauen: Bei der einen ist
die Zehe zu groß, bei der anderen die Ferse. Die eine
kommt nicht nicht auf den Boden der Tatsachen herunter,
sondern tippelt wie ein kleines Kind auf den Zehen, ist
eine Phantastin, Schwärmerin. Die andere stampft mit
der Ferse auf, wenn sie etwas durchsetzen will, sie kennt
nur Messen, Zählen, Wägen, aber keinen Himmel.
Das Märchen zeigt, was geschieht, wenn wir unerwünschte
Einseitigkeiten verdrängen wollen: die "Psychoanalytiker"
auf dem Haselbäumchen durchschauen es. --> Aschenputtel.
4)
Tauben
picken Augen aus: Aschenputtel
bringt die Extreme zum Ausgleich. Sie ist auf der Erde zu
Hause und im Himmel. Die Extreme aber sind blind für
die Mitte, sonst wären sie keine Extreme - das betonen
die Tauben am Schluß noch einmal, indem sie den Stiefschwestern
die Augen auspicken.
Zu
5) In dem Märchen "Das Mädchen
ohne Hände" (Brüder Grimm KHM 31)
wird der jungen Kraft im Menschen zunächst die Handlungsfähigkeit
genommen.
Zu
6) Im Märchen "Der Bärenhäuter" (Brüder Grimm KHM 101) erschrecken die beiden ältesten
Schwestern über den schmutzigen wilden Kerl. Die eine
schreit auf und läuft fort (auf Schwäbisch: "se
goht obe naus"), die andere betrachtet und taxiert
ihn cool kaufmännisch, bleibt erdverhaftet. Die Jüngste
erbarmt sich des Vaters, betet für den Bärenhäuter
und kriegt ihn am Ende gereinigt und schön zum Mann.
Darüber geraten die Schwestern in Zorn. Da weist das
Märchen der einen ihren Platz oben an, sie verliert
den Boden unter den Füßen, der anderen wird Dunkelheit
und Tiefe zuteil, wo sie schon vorher hingehörte.
Zu
7) Die böse Stiefmutter ist
keine Schwiegermutter! (Das wäre eine Freud`sche Fehlleistung)
Sie ist im Gegensatz zur wahren, lebenspendenen Mutter die
kaltherzige Mutter. Und die Stiefkinder hatten eben nicht
die richtige Mutter. Die ursprüngliche Bedeutung von "stief" ist nämlich "verwaist".
Und in früheren Jahrhunderten waren im Gegensatz zu
heute die Blutsbande ausschlaggebend: Kinder, die nicht "eigen Fleisch und Blut" waren,
waren der, sie versorgenden, Frau von vornherein fremd und
zuwider. So hockt die Stiefmutter der alten Märchen
in der Tonne ihres Egoismus und piesackt die anderen mit
ihren Spitzen. ("Die drei Männlein im Walde",
Brüder Grimm KHM 13, siehe auch --> Meister
Pfriem). Am Ende kommt das auf sie selbst zu,
was sie anderen angetan hat: sie wird in der Nageltonne
den Berg hinabgerollt. Tröstlich ist dabei, daß
sie im Fluß des Schicksals landet, der zum Ausgleich
führt.
(Frank
Jentzsch 16.2.2008, 19.8.2008, 29.7.2010)
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