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Drei
Schwestern, Drei
Brüder, der
Dummling im Märchen
Drei
Brüder / Der Dummling
Der
Sohn im Märchen steht für die freie Persönlichkeit
des Menschen. Er verläßt das Elternhaus, macht
sich auf den Weg, um die Welt kennenzulernen, er muß
Mitgefühl mit anderen Lebewesen zeigen, muß mutig
Proben bestehen und wachsam bleiben können. In vielen
Märchen treten drei Söhne, drei Brüder auf.
Sie sind Sinnbilder für Fühlen, Denken und Wollen.
Der Mensch hat sich im Laufe der Zeit zunächst im Fühlen
dann im Denken individualisiert, das sind die beiden ältesten
Brüder. Die jüngste Kraft, die wir heute noch ausbilden
müssen, ist der Wille (nicht zu verwechseln mit dem Eigensinn).
Den Willen entwickle ich, wenn ich gute Gewohnheiten erübe
und gerne das tue, was der Welt nützt. Er beruht auf
Einsicht, Selbstlosigkeit und Durchhaltekraft.
Im
Grimmschen Märchen "Die drei Federn"
(KHM 63) folgt der älteste Königssohn seiner
Feder nach Osten, der zweite nach Westen, beim jüngsten
heißt es: "...die dritte aber flog geradaus
und flog nicht weit, sondern fiel bald zur Erde. ...... sie
lachten den Dummling aus, der bei der dritten Feder ... bleiben
mußte." Dabei tauchen in mir folgende Assoziationen
auf: Der Osten erinnert an fernöstliche, z.B. indische,
Geistigkeit, deren Fühlen am geistigen Ursprung der Menschheit
festhalten möchte - der Westen z.B. an die amerikanische,
ganz irdische Weltanschauung, die das Denken in den Dienst
der Macht und der Ausbeutung der Erde stellt. Dazwischen Mitteleuropa,
das die Aufgabe haben könnte, den Ausgleich zwischen
beiden Richtungen herbeizuführen. Der Jüngste soll
hier und jetzt die vor ihm liegenden Aufgaben ergreifen. (Siehe
auch --> Übersicht
Märchendeutung / "Der
goldene Schlüssel")
Der
Jüngste wird im Märchen der Dummling genannt. Er ist es aber nur in den Augen der beiden älteren
Brüder, weil er nicht weltgewandt, nicht angepaßt
ist, weil er die Wahrheit sagt, Mitgefühl zeigt und nicht
eigensüchtig handelt.
Im
Grimmschen Märchen "Das Wasser des Lebens"
(KHM 97) suchen die beiden ältesten Brüder
den eigenen Vorteil: "Bringe ich das Wasser, so bin
ich meinem Vater der liebste und erbe das Reich." Sie
schieben auf ihrem Weg auch stolz den fragenden Zwerg beiseite
und meinen dadurch schneller vorwärts zu kommen. Sie
geraten aber gerade deshalb in die Klemme. Der Jüngste
antwortet im besten Sinne einfältig ehrlich und bekommt
so die erforderlichen Hilfen. In
dem russischen Märchen "Wasser des Lebens"
(Afanasjew / Friedel Lenz: "Iwan Johannes")
geben die beiden ältesten Söhne auf, als es schwierig
wird: "Entweder ich muß mit dem Kopf des Vaters
Mitleid haben, oder mit meinem eigenen. Besser ich kehre um!"
Der jüngste sagt unbekümmert: "...ein
Kopf weniger macht mich nicht arm. Ich reite, wie Gott es
gibt", setzt seinen Weg vertrauensvoll fort und
besteht dank verschiedener Helfer alle Gefahren.
Nun
kommt aber in den meisten Märchen noch ein Haken: Wenn
der Held meint, alles geschafft zu haben, erscheint wieder
der Hochmut im Bild der älteren Brüder, die eine
Falle stellen. Und nun beginnt erneut ein Prüfungsweg,
bis die Seele ganz rein ist und bereit zur (himmlischen) Hochzeit
mit der schönen Königstochter.
Die
drei Schwestern
Friedel
Lenz schreibt in ihrem Buch über "Die Bildsprache
der Märchen": Die Mutter versinnbildlicht das
Seelenhafte, wie es als Ur-Anlage dem Menschen gegeben ist.
Auch dieses Seelenhafte war ursprünglich stark von Blut
und Sippe abhängig, war mehr noch Gruppenseele als individuelle
Seele. Die Tochter ist Sinnbild der freiwerdenen, persönlichen,
ich-haften Seele, die daraus hervorgeht.... Die drei
Töchter, drei Schwestern im Märchen entsprechen
demnach dem oben geschilderten Individuationsprozeß:
der zum selbständigen Fühlen, zum selbständigen
Denken und zum selbständigen Wollen gelangten Seele,
wobei das Wollen die jüngste Kraft ist, die wir heute
noch entwickeln müssen.
Das
Grimmsche Märchen "Aschenputtel"
(KHM 21) sagt
uns: Der Mensch kann in das eine Extrem geraten oder in das
andere Extrem, er kann aber auch durch Anstrengung und Andacht
die Mitte entwickeln.
Die
drei Schwestern darin sind Bilder für seelische Eigenschaften.
Bei der einen Schwester ist die Zehe zu groß. Sie tippelt
auf den Zehen, sie ist schwärmerisch, phantastisch, abgehoben.
Bei der anderen ist die Ferse überbetont. Sie stampft
mit der Ferse auf, um sich durchzusetzen, kennt nur Irdisches,
für sie gibt es keinen Himmel. Beide wollen ihre Einseitigkeit
vertuschen. Sie üben sozusagen Askese, um den Königssohn
zu bekommen. Die weißen Tauben auf dem Haselbäumchen,
die Himmelsboten, sehen aber am Blut im Schuh, daß da
etwas verdrängt werden sollte.
Aschenputtel
bringt beide Extreme ins Gleichgewicht: Sie kennt die irdirische
Arbeit wie Holz und Wasser schleppen, Kochen und Waschen (was
zu Grimms Zeiten schwerer war als heute) und geht dreimal
am Tage zum Grab der Mutter, um zu beten. Sie kennt Erde und
Himmel, und bringt beides geduldig zusammen, deshalb paßt
ihr der goldene Schuh. Der goldene Schuh ist ein Bild dafür,
daß Aschenputtel das Himmelsgold der Tauben, ihre Ideale,
bis in die Füße, bis in den Willen hineingebracht
hat. Sie ist offenbar im Denken (Taubenschlag) und Fühlen
(die süßen Birnen im Birnbaum) zu Hause, kann hinein
und hinaus, wann sie will, aber sie bleibt nicht dabei stehen.
Dabei hilft der Märchenheldin die Verbindung zur verstorbenen
Mutter.
Die
Extreme (die beiden Stiefschwestern) sind blind für die
Mitte, für den Ausgleich (Aschenputtel), sonst wären
sie keine Extreme. Das betonen am Ende die beiden Tauben noch
einmal, indem sie den Stiefschwestern die Augen auspicken.
Im
russischen Märchen "Die schöne Wassilissa"
(Afanasjew) ist die Hilfe der verstorbenen Mutter
in Form eines Püppchens anwesend. Das Vertrauen zu ihr
hilft der Märchenheldin durch alle Gefahren.
(Frank
Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008)
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