Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Drei Schwestern, Drei Brüder, der Dummling im Märchen


Drei Brüder / Der Dummling

Der Sohn im Märchen steht für die freie Persönlichkeit des Menschen. Er verläßt das Elternhaus, macht sich auf den Weg, um die Welt kennenzulernen, er muß Mitgefühl mit anderen Lebewesen zeigen, muß mutig Proben bestehen und wachsam bleiben können. In vielen Märchen treten drei Söhne, drei Brüder auf. Sie sind Sinnbilder für Fühlen, Denken und Wollen. Der Mensch hat sich im Laufe der Zeit zunächst im Fühlen dann im Denken individualisiert, das sind die beiden ältesten Brüder. Die jüngste Kraft, die wir heute noch ausbilden müssen, ist der Wille (nicht zu verwechseln mit dem Eigensinn). Den Willen entwickle ich, wenn ich gute Gewohnheiten erübe und gerne das tue, was der Welt nützt. Er beruht auf Einsicht, Selbstlosigkeit und Durchhaltekraft.

Im Grimmschen Märchen "Die drei Federn" (KHM 63) folgt der älteste Königssohn seiner Feder nach Osten, der zweite nach Westen, beim jüngsten heißt es: "...die dritte aber flog geradaus und flog nicht weit, sondern fiel bald zur Erde. ...... sie lachten den Dummling aus, der bei der dritten Feder ... bleiben mußte." Dabei tauchen in mir folgende Assoziationen auf: Der Osten erinnert an fernöstliche, z.B. indische, Geistigkeit, deren Fühlen am geistigen Ursprung der Menschheit festhalten möchte - der Westen z.B. an die amerikanische, ganz irdische Weltanschauung, die das Denken in den Dienst der Macht und der Ausbeutung der Erde stellt. Dazwischen Mitteleuropa, das die Aufgabe haben könnte, den Ausgleich zwischen beiden Richtungen herbeizuführen. Der Jüngste soll hier und jetzt die vor ihm liegenden Aufgaben ergreifen. (Siehe auch --> Übersicht Märchendeutung / "Der goldene Schlüssel")

Der Jüngste wird im Märchen der Dummling genannt. Er ist es aber nur in den Augen der beiden älteren Brüder, weil er nicht weltgewandt, nicht angepaßt ist, weil er die Wahrheit sagt, Mitgefühl zeigt und nicht eigensüchtig handelt.

Im Grimmschen Märchen "Das Wasser des Lebens" (KHM 97) suchen die beiden ältesten Brüder den eigenen Vorteil: "Bringe ich das Wasser, so bin ich meinem Vater der liebste und erbe das Reich." Sie schieben auf ihrem Weg auch stolz den fragenden Zwerg beiseite und meinen dadurch schneller vorwärts zu kommen. Sie geraten aber gerade deshalb in die Klemme. Der Jüngste antwortet im besten Sinne einfältig ehrlich und bekommt so die erforderlichen Hilfen. In dem russischen Märchen "Wasser des Lebens" (Afanasjew / Friedel Lenz: "Iwan Johannes") geben die beiden ältesten Söhne auf, als es schwierig wird: "Entweder ich muß mit dem Kopf des Vaters Mitleid haben, oder mit meinem eigenen. Besser ich kehre um!" Der jüngste sagt unbekümmert: "...ein Kopf weniger macht mich nicht arm. Ich reite, wie Gott es gibt", setzt seinen Weg vertrauensvoll fort und besteht dank verschiedener Helfer alle Gefahren.

Nun kommt aber in den meisten Märchen noch ein Haken: Wenn der Held meint, alles geschafft zu haben, erscheint wieder der Hochmut im Bild der älteren Brüder, die eine Falle stellen. Und nun beginnt erneut ein Prüfungsweg, bis die Seele ganz rein ist und bereit zur (himmlischen) Hochzeit mit der schönen Königstochter.

Die drei Schwestern

Friedel Lenz schreibt in ihrem Buch über "Die Bildsprache der Märchen": Die Mutter versinnbildlicht das Seelenhafte, wie es als Ur-Anlage dem Menschen gegeben ist. Auch dieses Seelenhafte war ursprünglich stark von Blut und Sippe abhängig, war mehr noch Gruppenseele als individuelle Seele. Die Tochter ist Sinnbild der freiwerdenen, persönlichen, ich-haften Seele, die daraus hervorgeht.... Die drei Töchter, drei Schwestern im Märchen entsprechen demnach dem oben geschilderten Individuationsprozeß: der zum selbständigen Fühlen, zum selbständigen Denken und zum selbständigen Wollen gelangten Seele, wobei das Wollen die jüngste Kraft ist, die wir heute noch entwickeln müssen.

Das Grimmsche Märchen "Aschenputtel" (KHM 21) sagt uns: Der Mensch kann in das eine Extrem geraten oder in das andere Extrem, er kann aber auch durch Anstrengung und Andacht die Mitte entwickeln.

Die drei Schwestern darin sind Bilder für seelische Eigenschaften. Bei der einen Schwester ist die Zehe zu groß. Sie tippelt auf den Zehen, sie ist schwärmerisch, phantastisch, abgehoben. Bei der anderen ist die Ferse überbetont. Sie stampft mit der Ferse auf, um sich durchzusetzen, kennt nur Irdisches, für sie gibt es keinen Himmel. Beide wollen ihre Einseitigkeit vertuschen. Sie üben sozusagen Askese, um den Königssohn zu bekommen. Die weißen Tauben auf dem Haselbäumchen, die Himmelsboten, sehen aber am Blut im Schuh, daß da etwas verdrängt werden sollte.

Aschenputtel bringt beide Extreme ins Gleichgewicht: Sie kennt die irdirische Arbeit wie Holz und Wasser schleppen, Kochen und Waschen (was zu Grimms Zeiten schwerer war als heute) und geht dreimal am Tage zum Grab der Mutter, um zu beten. Sie kennt Erde und Himmel, und bringt beides geduldig zusammen, deshalb paßt ihr der goldene Schuh. Der goldene Schuh ist ein Bild dafür, daß Aschenputtel das Himmelsgold der Tauben, ihre Ideale, bis in die Füße, bis in den Willen hineingebracht hat. Sie ist offenbar im Denken (Taubenschlag) und Fühlen (die süßen Birnen im Birnbaum) zu Hause, kann hinein und hinaus, wann sie will, aber sie bleibt nicht dabei stehen. Dabei hilft der Märchenheldin die Verbindung zur verstorbenen Mutter.

Die Extreme (die beiden Stiefschwestern) sind blind für die Mitte, für den Ausgleich (Aschenputtel), sonst wären sie keine Extreme. Das betonen am Ende die beiden Tauben noch einmal, indem sie den Stiefschwestern die Augen auspicken.

Im russischen Märchen "Die schöne Wassilissa" (Afanasjew) ist die Hilfe der verstorbenen Mutter in Form eines Püppchens anwesend. Das Vertrauen zu ihr hilft der Märchenheldin durch alle Gefahren.

(Frank Jentzsch 8.2.2008, 19.8.2008)